MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON GERRIT BARTELS
: Das Mittelalter

Antal Szerb: „Die Pendragon-Legende“. Aus dem Ungarischen von Susanne Großmann-Vendrey, dtv-Premium, München 2004, 312 Seiten, 14,50 €

Die Lektüre von Antal Szerbs erstmals auf Deutsch vorliegendem Roman „Die Pendragon-Legende“ ist ein zwiespältiges Vergnügen. Einerseits ist die „wundersame“ Geschichte des 1945 in einem KZ ums Leben gekommenen ungarischen Autors schön leicht und flüssig erzählt, wird sie mit viel Witz und noch mehr Esprit vorangetrieben. Da freut man sich schon zu Beginn über alle Maßen, wenn die Hauptfigur, der junge in London lebende und arbeitende ungarische Philologe János Bátky, bei einer Soiree von seiner Gastgeberin vorgestellt wird als jemand, von dem sie gerade nicht genau weiß, „ob er sich mit Insektenfressern des englischen Mittelalters oder mit Dreschmaschinen des italienischen Altertums beschäftigt“. Und anstatt sich zu wundern, bestätigt Bátky ihre Worte, indem er sich als „Gelehrter überflüssiger Wissenschaften“ bezeichnet.

Andererseits, und hier öffnet sich der Zwiespalt, bekommt man beim Lesen zunehmend das Gefühl einer irrlichternden Unernsthaftigkeit. Szerb, der als gelernter Literaturwissenschaftler einmal von sich sagte, eher Schriftsteller als Wissenschaftler zu sein, dann aber wieder bekannte, eher Leser als Schriftsteller zu sein, scheint dabei seinen eigenen Vorzügen, seinem Witz, seiner Fluffigkeit, seiner Gelehrtheit, nicht groß über den Weg zu trauen. Das bevorzugte Stilmittel von „Die Pendragon-Legende“ ist die Ironie und der Roman ein weit verzweigtes Spiel mit den Genres, eine Mischung aus Detektiv-, Grusel-, Liebes- und Kolportageroman. Nur ist das Ganze weder spannend noch gruselig, noch lässt es nur ein Mindestmaß an Romantik oder ernsthaftem Pathos zu. Wer den feinen Entwicklungs- und Italienroman „Reise ins Mondlicht“ aus dem Jahr 1937 kennt, mit dem Szerb vor Jahresfrist in Deutschland und anderswo begeistert entdeckt wurde, wird beim Lesen der 1934 entstandenen „Pendragon-Legende“ etwas verdutzt aus der Wäsche schauen: eine intellektuelle Spielerei, kein zweiter Steppenwolf, ein bewusst spaßig gehaltener, antimodernistischer Gelehrtenroman, keine moderne Selbstfindungsgeschichte.

So folgt man János Bátky hin und her gerissen auf ein Schloss in Wales, wohin ihn seine Soiree-Bekanntschaft, der Earl of Gwynedd, der letzte Spross der Pendragon-Familie, eingeladen hat. Bátky soll hier in der sagenumwobenen Bibliothek der Pendragons deren Leben studieren. Stattdessen wird er in eine Erbschaftsangelegenheit verstrickt, verliebt er sich in die Nichte des Earls (oder besser: in das „Burgfräulein“, ihren Status und „in ihre entfernte Verwandtschaft mit den Jamben von Shakespeare und Milton“) und entdeckt schließlich das Geheimnis der Pendragons, ihres Zeichens einst engagierte Okkultisten und Rosenkreuzer.

Am Ende dieses launigen, irgendwie aber auch sehnsüchtig-nostalgischen Romans weiß man immerhin, dass es schwer ist, sich zu entscheiden: zwischen dem wirklichen Leben, das einen stets vor neue Anforderungen stellt, wie Bátky selbst im rückständigen Wales erfahren muss, und der Welt der Bibliotheken und Bücher, in der Bátky sich immer wieder aufs Neue am liebsten „wälzen“ und „baden“ würde. Insofern wäre es nur konsequent, würde sich der Verlag bald auch der literaturwissenschaftlichen Hauptwerke von Szerb annehmen und sie ins Deutsche übertragen lassen, etwa seiner „Ungarischen Literaturgeschichte“ von 1934 oder der „Literaturgeschichte der Welt“ von 1941. Selbst auf die Gewissheit hin, dass auch darin Dinge verhandelt werden, wie Bátky weiß, „um die sich kein normaler Mensch mehr kümmert“.

Das Böse

Imre Kertész: „Detektivgeschichte“. Aus dem Ungarischen von Angelika und Peter Máté. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004, 138 Seiten, 12,90 €

Ein Mitläufer und Mörder eines ehemaligen Unrechtsstaats irgendwo in Lateinamerika erinnert sich. Er, der Antonio R. Martens heißt, sitzt im Gefängnis und bittet seinen Anwalt, aufschreiben zu dürfen, wie er vom einfachen Polizisten zum Folterknecht des „Corps“ wurde; vor allem aber, wie es dazu kam, „dass ich die Logik verstanden habe“, die Logik, die ihm während seiner Taten nicht einsichtig war. Die Logik, in der es in Imre Kertész’ 1976 entstandener „Detektivgeschichte“ geht, ist natürlich die des Bösen und die der Macht, denn unaufhaltsam folgen das Böse und die Macht ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten.

Dass es allerdings für das Verständnis dieser Geschichte eines besonderen Spürsinns bedarf, lässt sich nicht sagen – seinen Titel verdankt dieses Buch wohl eher den Verstellungen, die Kertész seinerzeit in Ungarn unternahm, um es seinem Verlag andienen zu können, so etwa auch der nicht weiter präzisierte lateinamerikanische Schauplatz: „Wie konnte man in einer auf illegalem Wege an die Macht gelangten Diktatur, vor der Nase beflissener Zensoren, eine Geschichte veröffentlichen, in der es um die Technik einer auf illegalem Weg hochgekommenen Macht geht?“, fragt Kertész in seinem Vorwort, in dem er erklärt, dass die „Detektivgeschichte“ in nur zwei Wochen entstand, um so ein anderes seiner Bücher umfangreicher werden zu lassen und damit einer Veröffentlichung zuführen zu können.

Für Martens ist die Geschichte genauso „einfach“ wie „ungeheuerlich“. Trotz dauernder Kopfschmerzen erfüllt er seine Aufgaben und verfolgt schließlich auch den Fall von Vater und Sohn Salinas mit gehöriger Konsequenz. Martens merkt erst, dass das Corps keine Maßstäbe kennt, dass er selbst „die Ereignisse nicht mehr an der Kandare hat“, als sich die Unschuld der beiden Salinas herausstellt: Liquidiert werden müssen sie trotzdem. Das „Verhängnis“, so ein weiteres Schlüsselwort dieses Buches, das Verhängnis, auf das Martens’ Vorgesetzte vertrauen, ist stärker als jeder Maßstab, als jedes Gesetz.

Souverän, nüchtern und auf knappstem Raum erzählt Kertész das alles, und geschickt stellt er Täter und Opfer gegenüber und lässt ihre Grenzen verschwimmen, indem er Martens in seinen Aufzeichnungen aus dem Tagebuch des jungen, orientierungslosen und lebensmüden Salinas zitieren lässt. Kein noch so hart gesottener, originärer Krimi ist schauerlicher als diese „Detektivgeschichte“. Zumindest Martens’ psychosomatische Beschwerden und die Tatsache, dass er sein Schicksal erklären möchte, beweisen aber: Alle Hoffnungen fahren lassen möchte auch ein Imre Kertész nicht, trotz Auschwitz, trotz aller unerbittlichen Logik des Bösen.

Die Frauen

Stephen Vizinczey: „Wie ich lernte, die Frauen zu lieben“. Aus dem Englischen von Carina von Enzenberg. SchirmerGraf Verlag, München 2004, 308 Seiten, 19,80 €

Auch Bestseller haben ihren Raum und ihre Zeit. Ein „Welterfolg“ mit inzwischen fast fünf Millionen Lesern soll Stephen Vizinczeys 1965 erschienener Roman „In Praise of Older Women“ sein. In Deutschland aber scheint das Buch, dessen Thema die Verbindung eines jungen Mannes zu älteren Frauen ist, für wenig Aufsehen gesorgt zu haben. Weder die erste Übersetzung „Frauen zum Pflücken“ aus dem Jahr 1967 noch die 1980 entstandene Neuübersetzung „Lob der erfahrenen Frauen“ wurde den Buchhändlern aus den Händen gerissen, und auch die dritte, vor kurzem von dem jungen Münchner Verlag SchirmerGraf veröffentlichte Übersetzung mit dem Titel „Wie ich lernte, die Frauen zu lieben“ hat bislang noch kein größeres Beben etwa in der Spiegel-Bestsellerliste verursacht.

Was schade ist. Denn so heiter und charmant, so luftig und unterhaltend der 1933 geborene und 1956 nach Kanada emigrierte ungarische Autor Vicinczey erzählt, wie sein Held András Varda das Handwerk und die Feinheiten des Lebens genauso wie das Handwerk und die Feinheiten der Liebe erlernt, müsste das auch heute noch locker ein paar zehntausend neue Leser ansprechen. Varda, von Beruf Philosophieprofessor in Michigan, erinnert sich in Vizinczeys Roman in siebzehn mit Titeln wie „Über Mütter kleiner Kinder“ oder „Über Angst und Auflehnung“ versehenen Kapiteln an „die glücklichen und unglücklichen Erfahrungen, die, wie ich glaube, einen Mann aus mir gemacht haben“.

Das beginnt mit den Freundinnen der Mutter, bei denen der junge, streng katholisch erzogene Varda Anfang der Dreißigerjahre auf dem Schoß sitzt und denen er schon mal zaghaft an die Brüste fasst. Und das endet 1962 in Toronto in einer Pleite mit einer Dame namens Ann MacDonald. Nachdem sie Varda bei ihrer ersten Begegnung Jahre zuvor einen Korb gegeben hatte, ist sie dieses Mal zu allem bereit. Aber vergeblich: Varda versagt, was Ann nicht stört, denn, wie sie ihm offenbart, auf einen Orgasmus mehr oder weniger käme es schließlich nicht an: „Die demütigende Wahrheit dieses Augenblicks kündigte für mich, glaube ich, das verspätete Ende meiner Jugend an“, weiß Varda.

Das wirklich Schöne und Interessante an dem Roman aber ist, dass Varda nicht nur von seinen amourösen Abenteuern erzählt, sondern er diese organisch in die historischen Zeitläufte bettet, sich bei ihm also Liebe und Politik, Sex und Geschichte gewissermaßen gegenseitig bedingen. Auf der Flucht vor den Nazis landet er 1945 in Salzburg bei der US-Army, wo er sich als Zuhälter verdingt. Zurück in Ungarn lebt er hier bis 1956 unter der kommunistischen Diktatur und ergeht sich in längeren Ausführungen über die leidvolle ungarische Geschichte. Zwischen den Damen Nusi und Paola erklärt er, dass die ungarische Geschichte eine des Verlierens und Durchhaltens ist. Und an anderer Stelle weiß er: „Bürger großer Staaten neigen zu der Annahme, dass Siege endgültig sind; die Ungarn dagegen vertrauen auf den Verfall der Macht, auf den unvermeidlichen Sturz der Sieger und das Wiedererstarken der Besiegten.“ Was ihn aber nicht abhält, beim Aufstand mitzumachen und sein Land ein zweites Mal zu verlassen. Nur die Erotik, die kennt keine Grenzen, die setzt sich über alle Verhältnisse und Systeme hinweg, die ist universell. So hält Varda auch nicht die von ihm beklagte Vereinsamung durch das moderne Leben und dessen Schnelllebigkeit davon ab, sich in der Neuen Welt immer wieder aufs Neue in Frauen zu vergucken – bis ihm eben besagte Ann MacDonald alle Flausen austreibt und seine Erziehung der Gefühle ein Ende findet.

Das Leben

Deszo Kosztolányi: „Ein Held seiner Zeit – die Bekenntnisse des Kornél Esti“. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt Berlin, Berlin 2004, 303 Seiten, 19,90 €

Das Zimmer Nummer sieben im fünften Stock des Budapester Hotels „Fledermaus“ ist ein armseliges Boheme-Loch. Ein ungemachtes Bett, ein wackeliges Sofa, zwei Stühle, ein Schrank und ein Tisch, den eine alte Zeitung und ein verwelkter Veilchenstrauß zieren. Hier trifft der Autor dieses Buches seinen alten Freund Kornél Esti wieder, mit dem er den Großteil seiner Jugend verbrachte und den er im reiferen Mannesalter bewusst aus den Augen verloren hatte: Zu unvernünftig erschien er ihm, ein Lebemann und Luftikus hier, ein Spießbürger dort, das vertrug sich nicht mehr. Jetzt aber beschließen beide, der Autor und sein nur allzu offensichtliches Alter Ego, ein Buch zusammen zu verfassen. Kornél Esti übernimmt dafür den Part des Stofflieferanten, stellt jedoch eine formale Forderung: „Dass du es mir nicht zu irgendeiner läppischen Geschichte zusammenkleisterst. Es soll alles bleiben, wie es eines Dichters würdig ist: Fragment.“

Es ist dies die Initiation von „Ein Held seiner Zeit. Die Bekenntnisse des Kornél Esti“, eines Buchs, das 1933 erstmals in Ungarn veröffentlicht wurde und wie alle Bücher in diesem Modernen Lesen eine Art Ausgrabung ist. Und wie bei Szerb und Vizinczey auch geht es mit der Wiederentdeckung eines großen ungarischen Autors einher: Deszö Kosztolányi, 1888 geboren, 1936 gestorben, der für Peter Esterhazy, wie er in seinem Nachwort schreibt, gleich der „Größte“ unter Ungarns Autoren ist, größer als Márai, mit dem die Renaissance der ungarischen Literatur hierzulande begann, größer als Szerb: „Ein bisschen stehen alle in seinem Schatten, und wer nicht dort steht, würde wohl gern dort stehen.“

Der Vorgabe seines Helden wird Kosztolányis Buch durchweg gerecht: Es erzählt keine durchgehende, zwanghaft ausgedachte Geschichte, sondern versammelt Episoden und Begebenheiten aus Kornél Estis Leben; Geschichten aus einem vitalen Budapest der Zwanziger- und Dreißigerjahre, das vor allem aus Kaffeehäusern und Künstlerzirkeln zu bestehen scheint, aber auch Geschichten von unterwegs. Kleine Liebeleien in Zügen, wo Esti etwa ein überaus gebildetes türkisches Mädchen kennen lernt und ihm schließlich genau 330 Küsse gibt. Dabei vergibt er ihr auch die jahrelange türkische Besetzung Ungarns, denn er ist eben Dichter, ein „Wörterverrückter“, und die Türken haben nicht zuletzt die ungarische Sprache bereichert; und auf einer weiteren Zugreise unterhält Esti sich lang und ausgiebig mit einem bulgarischen Schaffner, ohne ein einziges Wort Bulgarisch zu können.

Bei aller spielerischen Leichtigkeit dieser Esti-Novellen, bei all ihren Bizarrerien und Skurrilitäten, ihrem scheinbaren Bemühen, die Welt vollends auf den Kopf zu stellen, verliert Kosztolányi das Wesentliche nicht aus dem Auge: den Menschen hinter dem Menschen zu entdecken, etwa den bulgarischen Schaffner hinter der Sprache, die Esti nicht versteht; die vielen Seelen, die in einer Brust schlummern, die vielen Wahrheiten hinter der einen oberflächlichen Wahrheit im Leben eines Menschen, was ja schon die ganz in der Tradition der literarischen Moderne gehaltene Entstehungslegende des Buchs andeutet.

Und natürlich ist da noch die Literatur, die für Esti stets vor dem Leben kommt. Wenn der eine sich Sorgen um seinen kranken Sohn macht, sind für Esti die Sorgen um ein Gedicht mindestens gleichwertig. Oder wenn er einen Mann aus der Donau zerrt und ihm das Leben rettet, ist das für Esti das Normalste der Welt. Als dieser jedoch beginnt, schlechte Gedichte zu schreiben, hat Esti keine Skrupel, ihn eines Tages doch wieder in die Donau zurückzustoßen.