Hilfswelle folgt auf Flutwelle

Die UNO kündigt für Südasien die größte Hilfsaktion der Geschichte an. Aber weltweit ist die Bereitschaft, Nothilfe in Krisengebieten zu leisten, rückläufig

VON DOMINIC JOHNSON

Auf die größte Naturkatastrophe seit Menschengedenken folgt die größte internationale Hilfsaktion der Weltgeschichte. „Eine gigantische Hilfsoperation ist unterwegs“, sagte Jan Egeland, UN-Koordinator für Katastrophenhilfe, in New York. Nach den zehntausenden Toten der Flutkatastrophe müsse sich die internationale Gemeinschaft jetzt um die „zweite Welle“ des Desasters kümmern: die Auswirkungen auf die Überlebenden. „Das Trinkwasser für Millionen von Menschen ist verunreinigt“, erklärte Egeland. „Das wird zu Seuchen führen.“ Die Kosten der Hilfe würden sich auf „viele Milliarden Dollar“ belaufen.

Die Spendenbereitschaft erscheint groß. Nach Angaben der UN-Koordinationsstelle für humanitäre Hilfe (OCHA) sind bis gestern bereits 19.740.845 US-Dollar auf den Konten der Hilfswerke eingetroffen – nach nur drei Tagen. Das ist mehr als im ganzen Jahr 2004 an internationaler Hilfe für Flutopfer in Haiti (1.600 Tote) oder Erdbebenopfer im Iran (20.000 Tote) zusammenkam. Insgesamt hat die Weltgemeinschaft im Jahr 2004 bislang 193.803.284 Dollar für Opfer von Naturkatastrophen auf der ganzen Welt lockergemacht, so die OCHA. Knapp 70 Millionen Dollar davon waren Regierungshilfe zur Bekämpfung der verheerenden Heuschreckenplage in Westafrika. Hätte die Staatengemeinschaft da frühzeitig geholfen, statt zu warten, bis die Schwärme ganze Ernten aufgefressen hatten, wäre viel Geld für andere Notsituationen übrig geblieben.

Diesmal kommt die Hilfe rasch – zum Glück. Die Zahl der Toten verdoppelt sich täglich. Viele verwüstete Regionen sind noch gar nicht vollständig untersucht worden. Es wird eine ungewöhnlich komplexe Hilfsaktion. Indonesien, Thailand, Sri Lanka, Indien, Malediven, Somalia – noch nie hat eine einzelne Naturkatastrophe so viele so weit voneinander entfernt liegende und so unterschiedliche Länder betroffen.

Zunächst einmal beginnt die Hilfe so, wie sie immer beginnt: unkoordiniert, dafür aber rasch und unkompliziert. Regierungen aus aller Welt stellen Gelder bereit, Dutzende Hilfswerke springen in die Bresche. Die Ersten, am Morgen des 26. Dezember, waren Ärzte ohne Grenzen in Belgien mit der Zusage, zwei Spezialisten und 32 Tonnen Medikamente und Sanitärmaterial nach Sumatra zu schicken. Dann folgten kleine Hilfswerke, von denen man sonst nie hört: Télécoms Sans Frontières, Mercy Corps. Dann die Rotkreuz-Gesellschaften. Und dann die größeren Hilfswerke und die UN-Agenturen, die das Ganze irgendwann koordinieren sollen.

Wie immer in solchen Fällen wird viel improvisiert, und vieles ist nicht zu verstehen. Warum fliegt das UN-Kinderhilfswerk Unicef Decken aus Dänemark nach Sri Lanka, einem Zentrum der globalen Textilindustrie? Braucht das Rote Kreuz in Indonesien wirklich 6.400 Eimer aus Holland? Liegt das katholische Hilfswerk Missio richtig, wenn es in Sri Lanka (7 Prozent katholisch) die Sicherung der „Einsatzfähigkeit kirchlicher Mitarbeiter“ zur Priorität erklärt? Das milliardenschwere UN-Welternährungsprogramm WFP sucht per Spendenaufruf 500.000 Dollar pro Krisenland, um Lebensmittel einzukaufen. Aus Uganda bringt das Rote Kreuz 12.000 Plastikplanen nach Indonesien, obwohl in Ugandas Norden über eine Million Kriegsvertriebene unterversorgt sind. Viele Mini-Hilfswerke sammeln jetzt einfach Geld, um ihre Projektpartner im Krisengebiet zu unterstützen, unabhängig von der allgemeinen Situation.

Hinter der Improvisation steckt auch viel Ignoranz. Niemand kann Naturkatastrophen vorhersehen. Aber es gibt ständig humanitäre Krisen auf der Welt: Kriege, Flüchtlingsdramen, Dürren, Hungersnöte. Und selbst dafür reicht die Hilfe meistens nicht. In der Demokratischen Republik Kongo, einem der schlimmsten Kriegsgebiete der Welt, wird das WFP, zuständig für die Koordination von Lebensmittelhilfe, kommenden Monat die Lebensmittelrationen für hunderttausende Kriegsvertriebene mangels Geld um 30 Prozent kürzen. Das ist Routine für Afrikas Flüchtlinge. Wer an den Folgen stirbt, kriegt keine Schlagzeilen, und die verantwortlichen Helfer müssen selbstverständlich keine Gehaltskürzung hinnehmen.

Immer wieder wird kritisiert, dass in Dauerkrisengebieten nicht genügend Vorräte bereitstehen und Hilfswerke schlecht wirtschaften. Das Problem ist nicht mangelnde Vorbereitung. „Early Warning“ ist derzeit ein Modewort in der internationalen Nothilfediskussion. Jedes Jahr veröffentlicht die humanitäre UN-Abteilung OCHA einen „konsolidierten Hilfsappell“ für sämtliche vorhersehbaren Krisen auf der Welt. Spezielle Webseiten (z.b. www.reliefweb.int, www.hewsnet.org, www.fews.net) versorgen professionelle Helfer mit aktuellen Lageübersichten. Im Januar 2005 tritt eine Reform der UN-Nothilfe in Kraft, die erstmals eine im gesamten UN-System tätige Coordination and Response Division schaffen soll.

Das Problem liegt woanders: Die Geber wollen nicht. Jedes Jahr stellt die OCHA erneut fest, dass der Hilfsappell vom Vorjahr nicht ausreichend finanziert worden ist. Im Jahr 2004 suchte die OCHA weltweit rund 3,4 Milliarden Dollar für humanitäre Notlagen in 28 Ländern – von einer Million Dollar in Bolivien bis zu 721 Millionen in Sudan. Bekommen haben die Hilfsprogramme knapp 1,8 Milliarden Dollar. Kein einziger Hilfsappell wurde voll gedeckt. Die beste Deckung mit 86 Prozent erhielt Westafrika, die schlechteste mit 4 Prozent Simbabwe – die dortige Regierung lehnt unabhängige Hungerhilfe ab. „Insgesamt war humanitäre Hilfe 2004 wesentlich geringer als in den Vorjahren“, bilanziert OCHA. „Dadurch erhielten Millionen von Kindern kein Essen, keine Impfungen, keine Basisgesundheitsversorgung.“ Auch außerhalb des UN-Systems sinkt die Spendenbereitschaft: Hilfe außerhalb der UN-Appelle sank von 6,6 Milliarden 2003 auf 3,3 Milliarden 2004. Überraschenderweise stellen sich die USA in der Nothilfe bereitwilliger unter die Flagge der UNO als die Europäer. Die USA waren 2004 der größte UN-Nothilfegeber mit 652 Millionen Dollar, gefolgt von der EU mit 218 Millionen – Deutschland lag mit 53 Millionen hinter den Niederlanden.

Für 2005 sucht die ernüchterte UNO nun nur noch 1,7 Milliarden Dollar Nothilfegelder weltweit, noch ohne Sudan. Aber jetzt kommt die Flutkatastrophe dazu. Sie könnte die Aufmerksamkeit monopolisieren. Aber zunächst einmal garantiert sie, dass 2005 ein besseres Jahr für die Helfer wird als 2004. Vielleicht ist das eine Trendwende in der internationalen Solidarität.