„Elvis has just left the building …“

Elvis lebt? Nein, den Menschen haben wir leider nirgendwo sichten können. Wir hören ja kaum noch den Musiker. Sogar der Mythos kommt uns allmählich abhanden. Elvis Presley ist tot. Morgen wäre er 70 Jahre alt geworden

VON JAN FEDDERSEN

Sie nannten ihn „the king“, den König. Greil Marcus hat diesen Begriff geprägt, der wichtigste Chronist jener Ära der US-amerikanischen Unterhaltungsmusik, als sie noch nach Aufbruch roch, nach Rebellion und dem Verlangen nach neuen Horizonten. Elvis war der König, er war das Urmeter aller Historie, die sich mit Musik jenseits bildungsbürgerlicher Klassik beschäftigt.

Sie nannten ihn Elvis „the pelvis“. Elvis, das Becken. Das Gelenk, mit dessen Hilfe erst aus Geschlechtsverkehr Sex und erotisches Verlangen stimuliert wird. Das Versprechen, die Verheißung, die Verlockung: Elvis Aaron Presley, morgen vor 70 Jahren in einer gottverlassenen Gegend von „god’s own country“ geboren, die zu jener Zeit besonders unter „the great depression“ zu leiden hatte, unter Armut und Hunger – und nicht nur Spuren von dieser Zeit sind zeitlebens an Elvis Presley abzulesen gewesen.

Seine Gier, sein ewiger Hunger, seine Neigung zum schnellen Verzehr, zum Junkfood und überhaupt zur oralen Lust. Kein Zufall, dass der erfolgreichste Popsänger aller Zeiten im Sommer 1977, gerade mal 42 Jahre jung, an einer Herzattacke starb, vollgepumpt mit Tabletten. Sie war die Folge chronischer Verstopfung des „Orpheus aus Gold“ (Klaus Theweleit), die ihn ausgerechnet dort ereilte, wo sich dergleichen normalerweise lindern lässt: Auf seiner Toilette endete sein Versuch, sich anal zu entleeren, allen Pressionen zum Trotz, im qualvollen Tod.

Er war der König des Rock, und er war die Antwort der proletarischen Südstaatenjugend auf ja eher deodoriert wirkende Crooner wie Frank Sinatra. Mutter Hausfrau, Vater Trucker, hätte Elvis’ berufliche Laufbahn auch auf den Highways als Lastkraftwagenfahrer münden können – wäre er nicht musikalisch gewesen. Und hätten ihm Lehrer auf der Highschool nicht geraten, aus seinem Talent etwas zu machen.

Geprägt durch seine afroamerikanischen Nachbarschaften verstand er sich auf Hillbilly, auf Country, auf den Gospel – und den Blues. Er mochte die schwarzen Einflüsse, ohne sich politisch um die Moral der Apartheid zu scheren. In Presleys persönlichem „melting pot“ fanden sich diese Stile und Sounds zusammen – was ihn aber schließlich seit Mitte der Fünfzigerjahre zum Idol der jugendlichen Massen machte, war nicht allein der Hass evangelikaler Prediger auf „den Musiker des Teufels“, sondern in erster und letzter Linie seine Körpersprache.

Da argumentierte einer auf der Bühne mal nicht wie ein Soldat nach Noten, sondern wie ein Liebhaber, ein Narziss und ein hungriger Freibeuter. Die Lippen – irgendwie glänzend, aufgeworfen; die Tanzschritte – eine Geste der Promotion in eigener Sache; die Augen – perfekt melancholisch; die Stimme – weich und wandlungsfähig vom Rock bis zur Schnulze.

Dass, nebenbei, das Idol eher prüde schien, verlegen wirkte, wurde er mit den Anwürfen gegen ihn konfrontiert, machte ihn noch glaubwürdiger: Der Wunsch nach körperlicher Laszivität und Ekstase wird ja erst verehrungswürdig, wenn zugleich um die eigenen Grenzen gewusst wird. Elvis – das war die Hoffnung, die ganze Woche über solle „saturday night fever“ herrschen; und das gute Wissen darum, dass es doch nie sein kann.

Kurzum: Er war der Macker, der sich um den guten Ton der lippenverkniffenen Leute nicht zu kümmern schien; der dennoch nie anders als ein „american boy next door“ wirkte, freundlich, höflich, manierlich, der tapferen Mutter ergeben. Und das maßlos. Eben dafür liebten ihn seine Fans und liebten ihn die Frauen. Er fraß ohne Maß, kaufte und verschenkte Edelkarossen, trug Klamotten, die vor schillerndem Schmuck eigentlich nicht tragbar waren – und blieb ein „working class hero“, der ebendieser Grenzenlosigkeit wegen verehrt wurde. Ein offen bewunderter Traum der Jugendlichen niederer Stände, geschmacklos, unnatürlich, vulgär – jedenfalls aus der Perspektive von Menschen der Fünfzigerjahre, die sich vor einem solch neuartig codierten Habitus fürchten mussten.

Es gibt in Amerika immer noch Menschen, die glauben, Elvis Presley sei 1977 gar nicht gestorben, es sei lediglich behauptet worden, was man verstehen müsse, damit er, der Weise, der Große, der Tapfere, endlich seine Ruhe haben könne. Und es ist schon bizarr, dass man eigentlich mit jedem Amerikaner, hat man sonst kein Thema, auf Anhieb über „the king“ plaudern kann.

Ältere erzählen oft gern, dass sie ihn berührt haben, dass er sie gesehen hat, dass er auf ihr Leben den mächtigsten Einfluss gehabt habe. „He’s set me free“, wie es in einer Dokumentation von Horst Königstein aus dem Jahre 1977 über die Beerdigung Elvis’ heißt. Häufig aber sagen seine Fans, recht besehen meist kurz vor der eigenen Pensionierung, der König sei nicht tot.

„Wahre Hoffnung stirbt nie“, wie es rund um den Schrein des Mannes in Graceland, im Herzen Amerikas, formuliert wird: Aber ist er noch ein König, der lebt? Ist nicht in jeder Dramaturgie zum König der Tod mit eingewoben? Denn was ist Elvis – in Amerika, in Europa, in Australien – mehr als eine Memorabilie, ein Fall für Pop-Archäologen?

Seine Söhne und Töchter haben ihn überlebt, und das musste auch so sein. Elvis Presley ist tot, und das nehmen seine Fans als Scheitern – und ist doch vielmehr ein Triumph der Idee des „hungry hearts“. Nichts kann er dafür, dass Rocker wie Springsteen oder Dylan sich nie auf „body language“ verstanden. Sexualität ist längst kein Tabu mehr, ebenso wenig wie Rebellion. Nur dass sich der Gestus der Rebellion verbraucht hat. Der „melting pot“ konnte weitergerührt werden, Elvis Presley war nur einer seiner ersten Köche.

Schwarz und weiß, rot und gelb – in Elvis lebt die Idee der Körperlichkeit, und es ist eine westliche, erotische wie scheue Idee. Doch es muss eine Fantasie bleiben, die den Vater namens Presley verehrt und doch seinen Nachfahren allen Raum lässt, eigene Erfahrungen zu machen, auf eigene Faust die Fährten zu lesen, der Gier und der Lust Zucker zu geben. Elvis Presley hat tolle Sachen gesungen. „In The Ghetto“, „Suspicious Mind“, „Always On My Mind“ oder „It’s Alright, Mama“ (sein Erstling, sein wichtigstes Stück) – er hat Las Vegas erobert und von seinem Erbe selbst viel verzehrt. Er war der Traum von armen Leuten, die sich in ihm erkannt haben und von ihm verstanden sahen.

Nun haben seine Enkel das Sagen. Vielleicht heißen sie Madonna, Alicia Keys, vielleicht Garth Brooks, Michael Stipe oder 50 Cent. Mit Michael Jackson hätte er sich sicher bestens verstanden. Seine Enkel entdecken den Reiz seiner „Oldies“ wieder. Gelegentlich nehmen sie sogar hin, dass auf Radiosendern Opas Songs gespielt werden. Sie pflegen sogar, könnte sein, seinen Grabstein. Er wohnt gewiss in ihren Herzen, denn ohne ihn hätte ihre eigene Party nicht so schön werden können. Aber die Show geht auch ohne ihn weiter, wirklich vermissen will ihn niemand. Wer braucht einen lebendigen Elvis Presley, einen Elvis, der auf seine alten Tage vielleicht würdig die Ernte seines Lebenswerkes einfahren würde, wie es Johnny Cash gelungen ist? Oder einen Elvis, der mit seinem alten Kumpel Tom Jones in Las Vegas Duette singt?

Er ist tot. Seine Leiche riecht nicht mal mehr, seine sterblichen Reste sind verwest. Sogar der Duft seiner Körperlichkeit ist verweht und zieht höchstens noch Leichenfledderer wie Shakin’ Stevens oder Dick Brave an, die der Legende ferner nicht sein könnten. Elvis ist tot, und das ist besser so. Denn die Show duldet keine Mumien, und seien sie noch so schön einbalsamiert.