Ressourcen und Menschenfeindlichkeit

Die wachsende Polarisierung zwischen Arm und Reich lässt Feindseligkeiten gegen Schwache und Fremde mitwachsen. Das ist das Ergebnis der neuen Studie von Wilhelm Heitmeyer

Was ist mit den Deutschen los? Das ist eine klassische Sorge der Politischen-Kultur-Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine vergleichende Studie zur Civic Culture demonstrierte, wie weit die Nachkriegsdeutschen von der demokratischen Lebenswelt des Westens entfernt waren. Zwei Jahrzehnte später sah das schon anders aus: Auch die Bundesrepublik war auf dem Weg vom Untertanenstaat zur Beteiligungsgesellschaft.

Und heute? Nach 1990 scheinen sich Mentalitäten und Einstellungen im vereinten Deutschland wieder verlagert zu haben, manchen Zeitdiagnosen zufolge wirken wir wie der kranke Mann Europas und anfällig für Rückfälle in autoritäres Verhalten. Aber lassen solche Einzelbefunde auf das deutsche Kollektivbewusstsein schließen, werden sie bestätigt durch eine methodisch ausgefeilte Breitenuntersuchung deutscher Zustände?

Der Bielefelder Konflikt- und Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer hat ein Team empirischer Sozialforscher zu einem von einem Stiftungskonsortium finanzierten, auf zehn Jahre veranschlagten Langzeitprojekt versammelt, das ein objektives Bild des sozialen Klimas und hier vor allem der Nachtseiten der politischen Kultur des vereinten Deutschland entwerfen soll. Das Generalthema ist „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, eine Haltung, die andere wegen der von ihnen gewählten oder der ihnen zugeschriebenen Gruppenzugehörigkeit als ungleichwertig markiert und feindselig behandelt.

Dazu gehören sieben zu einem Syndrom verwobene Elemente: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Heterophobie (das ist Ausgrenzung von Homosexuellen, Obdachlosen und Behinderten), Etabliertenvorrechte (der Herr- im-Hause-Standpunkt), Islamophobie und Sexismus, die seit 2001 in einem Survey regelmäßig abgefragt und in ihrer Dynamik analysiert werden.

Die jüngste repräsentative Telefonerhebung (vom Frühjahr 2004 bei 3.000 Deutschen zwischen 17 und 92 Jahren) ist jetzt ausgewertet, angereichert mit Fallgeschichten, Porträts so genannter eingreifender Menschen und vertiefenden Analysen zu den Folgen der Arbeitsmarktreform, zur Einwanderungspolitik und zum Antisemitismus, dem Schwerpunkt dieser dritten Folge.

Generell lässt sich sagen, dass die auch hierzulande stetig wachsende Polarisierung zwischen Reich und Arm und Desintegrationserscheinungen auf dem Arbeitsmarkt wie im Bildungssystem Vorurteile und Feindseligkeit gegen Schwache und Fremde mitwachsen lassen. Wer sozial isoliert ist, pessimistisch in eine ungewisse Zukunft blickt und in seinem Haushalt nur wenige Ressourcen zur Verfügung hat, neigt eher zur Menschenfeindlichkeit, wobei hier vor allem die steigende Aversion gegen Einwanderer zu beachten ist, während klassischer Rassismus, Sexismus und Antisemitismus zu Beginn des neuen Jahrhunderts eher abnehmen.

Dass, wie Heitmeyer meint, die Islamophobie stärker wird, gibt das Datenmaterial nicht zwingend her, das jedenfalls bis 2003 (also lange genug nach der Manifestation islamistischen Terrors) eine überwiegend positive Einstellung zum Islam in Deutschland erkennen lässt.

Wenn heute ein paar Prozent mehr Deutsche den Islam nicht mehr für eine „bewundernswerte Kultur“ halten, dann ist das wohl eher der Abbau einer unreflektierten Islamophilie. Und wenn knapp die Hälfte nicht der Meinung sind, es sei nicht „allein Sache der Muslime, wenn sie über Lautsprecher zum Gebet aufrufen“, spiegelt das nicht notwendig Ablehnung, sondern entspricht eher dem Grundsatz der Religionsfreiheit, der besagt, dass in einer multireligiösen Gesellschaft einerseits jeder glauben soll, was er mag, andererseits aber auch niemand anderen seinen Glauben aufzwingen darf.

Überraschend wirkt die aus dem Survey gewonnene These, Frauen seien nicht nur besonders islamophob, sondern generell fremdenfeindlicher und rassistischer als Männer. Im Wahlverhalten spiegelt sich das bisher ebenso wenig wie in Gewaltakten gegen Fremde und Muslime; Heitmeyer behauptet, „feindselige Frauen“ würden Gefühle der Deklassierung diffus auf schwache Gruppen projizieren. Auch bei diesem Gender-Thema schlägt demnach die Klassenschichtung durch, eine Hypothese, die alle Studien des Bielefelder Projekts durchzieht und die Frage aufwirft, ob kulturelle Motive der Menschenfeindlichkeit damit nicht unterbewertet werden. Denn natürlich kommt sie auch in den Wohlstandsmilieus dieser Gesellschaft vor.

Judenhass war nicht nur, wie es August Bebel einmal im Blick auf antisemitische Arbeiter ausgedrückt hat, der „Sozialismus der dummen Kerls“, sondern ein Merkmal der Eliten. Klassischer Judenhass, christlich oder völkisch motiviert, spielt heute keine so große Rolle mehr, wohl aber der sekundäre Antisemitismus, der Juden bezichtigt, sie würden den Deutschen vergangene Verbrechen vorhalten und Entschädigung fordern. Beflügelt wird diese Aversion neuerdings, wie eine Gießener Arbeitsgruppe des Projektes belegen kann, durch einen israelbezogenen Antisemitismus, der als Antizionismus oder Israelkritik daherkommt und damit eine „Umwegkommunikation“ von Judenfeindschaft darstellt.

Das ist ausdrücklich kein Plädoyer gegen Israelkritik als solche, aber eine Aufforderung, diese, wo sie berechtigt und notwendig ist, von antisemitischen Mustern und Versatzstücken freizuhalten. Wenn nicht ausreichend zwischen Juden, Israelis und israelischer Politik unterschieden werde, droht der latent gehaltene Antisemitismus durch selbst ernannte Tabubrecher wie Jürgen Möllemann freigesetzt zu werden und ein bisher in Deutschland wirksames Tabu zu erodieren.

Was mit den Deutschen los ist, war die Frage. In ihrer Gesamtheit sind sie weder antisemitisch noch islamophob, aber die krisenhafte Desintegration der Gesellschaft lässt vorhandene Menschenfeindlichkeit stärker hervortreten. Das teilt dieses Land mit vielen alten und neuen Demokratien, und nur ein Vergleich kann Auskunft darüber geben, ob sich die Deutschen wieder auf einen Sonderweg begeben haben.

CLAUS LEGGEWIE

„Deutsche Zustände. Folge 3“. Hg. von Wilhelm Heitmeyer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004, 280 Seiten, 10 Euro