„Ich bezahle bar“

Der Schauspieler Günter Lamprecht wird am Freitag 75 Jahre alt. Ein Gespräch über Alkohol, Männergewalt und das Abspeichern von Daten als Grundlage der Schauspielkunst

INTERVIEW von JÜRGEN KIONTKE

Vielleicht geht so die Geschichte einer Obsession: Ein Autor schreibt einen Text über Depressionen und Alkohol und bei der Arbeit fällt ihm ein, wie sehr ihn in jungen Jahren Günter Lamprecht in der Rolle des cholerischen Trinkers Manfred Burger im TV-Drama „Rückfälle“ (1977) beeindruckt hatte. Dieser Burger ähnelte frappierend dem Vater des Erzählers. „Wenn bei Lamprecht die Alarmglocken angingen, rutschte ihm die Haartolle leicht in die Stirn. Beim Vater dito.“ Als hätte der später durch die Darstellung des Franz Biberkopf in Rainer Werner Fassbinders 14-teiligem Fernsehfilm „Berlin Alexanderplatz“ (1981) zu Weltruhm gekommene Schauspieler den Vater gekannt. Der Schreiber ruft den Mimen an. Das Treffen findet in Hannover statt.

taz.mag: Herr Lamprecht, müssen Schauspieler saufen?

Günter Lamprecht: Wahrscheinlich. Trinken hat mit Angst zu tun, mein Leben war mit Angst bepackt. Ein Beispiel: 1955 bin ich aus Berlin raus, ins Niemandsland – in meinem Fall: ans Bochumer Schauspielhaus. Ich hatte zwar am Schillertheater gespielt, aber ich war doch eigentlich noch Orthopädiemechaniker. Und landete unter lauter Supermimen. Ich hatte Angst zu versagen. Und ich hatte Eheprobleme. Da waren alles Meistertrinker – einer brachte es von mittags bis abends auf zwei Flaschen Doornkaat. Die haben mir gesagt: Du willst doch ins schwere Fach hier, da musst du ein Kerl sein und saufen können. Dann kommst du ganz groß raus. Meine Stammkneipen lagen rund ums Theater, voll mit den Deckeln, die ich nicht bezahlen konnte.

Von vier Jahren in Bochum, sagen Sie…

… war ich drei besoffen. Ich hab’ mitgemacht, bis die Leber weh tat und der Stuhl weiß war. Da bin ich ausgestiegen.

Sie haben dem Drogensüchtigen, der fast zum Totschläger wird und am Ende Selbstmord begeht, dem Manfred Burger, 1977 in „Rückfälle“ ein Denkmal gesetzt. Nur der Schluss schien mir unpassend: Trinker schleichen aus ihrem Leben, die begehen keinen Selbstmord.

Das muss ein Missverständnis sein. Burger springt nicht, er lässt sich fallen.

Der grinst und springt runter, da war für mich klar: Das ist der letzte Anschlag Burgers auf seine Frau. In dem Sinne: Du bist schuld, dass ich jetzt springe.

Nein, nie! Die Feuerwehr bricht die Zimmertür auf, Burger verliert die Balance. Ich war froh, dass der Dreh vorbei war – und auch ich ließ mich fallen. Wir hatten sehr viel gearbeitet, wir hatten uns Menschen mit Trockendelirium in der Entzugsklinik angesehen. Dann fiel mir eines Tages auf, dass der Leiter der Entzugsklinik selber trank.

Für mich als Jugendlichen, der selbst solche Erwachsenen kannte, waren Sie in der Rolle der perfekte Choleriker. Ich dachte, woher kann der das so gut?

Burger war kein Choleriker. Dass ich das so gut konnte, hat mit meiner Beobachtungsgabe zu tun, Dinge, die ich an Leuten beobachtet hatte, mit denen ich permanent zusammengewesen war. Und ich kann meine gespeicherten Erlebnisse abrufen.

Schauspielerlexika führen Sie als Darsteller sozialer Außenseiter. Im Grunde aber haben Sie doch mehr den Mann der Mitte gespielt: den Kleinbürger, der Angst vor dem Abrutschen hat. Warum wollten Sie ins Fernsehen, dem Medium dieser Leute?

Im Fernsehen kann ich Millionen Leute erreichen, dachte ich. Im Theater spielst du ein Stück vielleicht zwanzigmal vor sechshundert Leuten, dann ist es vorbei. Da dachte ich, es wäre doch super, mit sozialkritischen Themen im Wohnzimmer der Bürger zu landen. Wir Schauspieler haben ja von den 68er-Ideen profitiert. Ich habe mich nie als Unterhalter verstanden; Komödiantentum ist mir zuwider. Ich hatte die Rolle des Burger aber erst abgelehnt, denn mir erschien es unmöglich, eine solche Figur im Fernsehen glaubwürdig darzustellen.

Mit dem Ergebnis waren Sie dann aber doch zufrieden?

Es passierte, was ich mir ersehnt hatte. Betroffene reagierten, es kam waschkörbeweise Post. Als erster Gratulant nach der Ausstrahlung meldete sich ein begeisterter Harald Juhnke. Ich bekam die „Goldene Kamera“. Jahre später hat Juhnke seinen „Trinker“ gespielt und auch er bekam die „Goldene Kamera“. Ich weiß noch, wie die Kamera bei der Verleihung zu mir rüberschwenkte – das war mir sehr peinlich.

Gewalt und Alkohol haben viele Ihrer Rollen dominiert; mit Burger und Franz Biberkopf in „Berlin Alexanderplatz“ decken Sie ein großes Spektrum ab, in dem sich – sagen wir: vom kriminellen Proleten bis zum Angestellten der Barmer Ersatzkasse – die Passion des „kleinen Mannes“ abspielt. Wovon ist die Darstellung dieser Männer geleitet?

Mein Vater Willi steht schon Pate. Bei „Berlin Alexanderplatz“ war es so: Ich sitze im Wohnwagen in der Waldemarstraße in Kreuzberg. Wenn Fassbinder besonders freundlich war, wollte er immer was Außergewöhnliches. An dem Tag meinte er: „Ey, du weißt doch, wir haben die Szene in der Kneipe.“ Ich sag’: „Moment, Moment, die ist doch disponiert auf Juni. Wir sind jetzt im März …“ – „Ja, ich hab’ da ’ne Kneipe entdeckt, wir können das vorziehen“, meinte er. Okay, wir gehen um die Ecke, und ich ahne schon: Das ist die Stammkneipe meines Vaters am Engelbecken. Alles noch original, die Theke, Tisch und Stühle. Ich hab’ gesagt: „Das fällt mir jetzt sehr schwer.“ Abends um acht war alles im Kasten.

Männer mit NS-Vergangenheit wie Ihr Vater leisteten starke Verdrängungsarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Was, denken Sie, ist bei ihm im Kopf passiert?

Er war vereinsamt, er hatte den Glauben verloren, die Orientierung. Er war „führerlos“. Den Nationalsozialismus gab es nicht mehr. Mein Vater hatte immer vom Krieg geschwärmt, wie auch von seiner Zeit in englischer Kriegsgefangenschaft. Er schilderte den Krieg fast immer wie eine Urlaubsreise, er hat nie negative Geschichten erzählt. In Neukölln war er dann niemand mehr. Ich habe mich mit den Brüdern meines Vaters angelegt. Das Kernerlebnis hatte ich in ebenjener Kneipe: Der Onkel legt die Abzeichen russischer Offiziere auf den Tisch, die er getötet hat, und schwärmt vom Kommissarbefehl. Mein Vater glühte für die Partei und Hitler – oder Robert Ley, den NS-Arbeitsminister, den er mal aushilfsweise gefahren hat.

Für die Darstellung des Burger standen diese Leute auch Pate?

Eigentlich bei allen Figuren. Ich weiß nicht, vielleicht ist das meine Begabung: Dass ich das alles gespeichert habe. Mit dem Unterschied, dass ich bereit bin, es preiszugeben. Das ist ganz schlimm bei mir: Ich muss bar bezahlen.

Hätte es ohne Alkohol diesen Aufstieg Deutschlands nach dem Krieg gegeben?

Ich glaube nicht. Die Menschen waren nach diesem Krieg froh, überlebt zu haben, waren in Aufbruchstimmung und den ganzen Tag besoffen.

Gab es bei „Berlin Alexanderplatz“ noch mal eine Suchtproblematik?

Ja, Kettenrauchen. Ich hab sechzig bis achtzig Zigaretten am Tag geraucht. Fassbinder auch, nur dass der abends noch gekokst hat.

Vor fünf Jahren hat ein jugendlicher Amokschütze Ihre Lebensgefährtin und Sie schwer verletzt.

Es ist weiter mein Anliegen, Gewalt zu thematisieren. Es gibt Kollegen, die sammeln Geld, um in Schulen über Gewalt aufzuklären. Aber wenn ich am Abend die Glotze einschalte, sitzt derselbe Typ da mit der Maschinenpistole und ballert in der Gegend rum. Ich habe immer die Drehbücher in Frage gestellt – von wegen Action und Gewalt. Dass mir dann so etwas passiert …

Denken Sie nicht: Aha, es ist gut gegangen. Das gibt mir Selbstsicherheit?

Natürlich bin ich froh, dass ich überlebt habe, aber das Trauma bleibt. Tja, die Sicherheit. Wenn ich mir überlege, dass es zehn-, zwölfmal Situationen gab, wo ich mit dem Leben davongekommen bin bis zu der Sache in Bad Reichenhall – dann fange ich an, an Wunder zu glauben.

Wie wäre Kommissar Markowitz damit umgegangen, die „Tatort“-Figur, die Sie kreiert und jahrelang gespielt haben?

Tja, was hätte Markowitz gemacht? Der ist ja zu achtzig Prozent Lamprecht. Ich jedenfalls habe da unten gelegen und vier Polizisten waren da. Der eine kam angerobbt wie in einem schlechten Film: „Wer schießt denn da auf Sie? Den müssen Sie doch kennen!“ – Ich sag’: „Schießen Sie doch zurück.“ Und so lagen wir da, fünfzig Minuten. Es ist nicht ein Schuss von der Polizei gefallen, und der Junge hat 51 abgegeben. Kriegserinnerungen setzten sofort wieder ein. Ich hab’ gerufen: „Die schießen auf uns!“ Ich sehe, wie Claudia auf mich zukommt, um mich zu schützen, und getroffen wird. Ich schiebe sie unters Auto und denk’ noch: Du Idiot, da ist der Tank, wenn er den trifft, ist sie da drunter. So hätte Markowitz auch gehandelt.

Welche Rolle fehlt Ihnen noch?

Von den großen historischen Figuren würde ich gern den Fontane spielen. Und eine Milieustudie über Heinrich Zille. Aber es finden sich keine Leute, die dafür Geld geben. Ansonsten sitzen wir an einem Stoff über humanes Sterben und einer Geschichte über Amokläufer.

Wie feiern Sie Ihren Geburtstag?

Ich trinke noch ab und zu gern ein Glas Rotwein. Mehr ist zu anstrengend.

JÜRGEN KIONTKE, 35, ist Journalist und Filmkritiker. Er ist Mitautor der Anthologie „Das Buch vom Trinken“, das dieser Tage im Verbrecherverlag erscheint (160 Seiten, 12 Euro)