„Mein“ Berlin

Siegergeschichten aus Wladimir Kaminers Schreibwettbewerb für Schüler, Teil III. Das Thema von „Kaminer sucht den Superautor“ ist Heimat

von VACESLAV SAFAROV

Als Provinzler freut man sich ganz besonders auf Berlin. Die deutsche Hauptstadt besuchen zu dürfen ist für jemanden aus Bitterfeld, welches am Rande eines südlichen Bundeslandes liegt, wie eine Pilgerfahrt. Ich jedenfalls habe mich wie ein Muslim gefühlt, der zum ersten Mal Mekka besucht, oder ein Hindu, der Vishnu oder auch Ganesha gegenübersteht, die sind beide gut.

Meine Freunde Tim, Matthias und Helmut – der aber von allen nur „Spike“ genannt wird, weil er sich seines Namens schämt – und ich hatten uns ein Gruppenticket nach Berlin gekauft und machten uns mit dem ICE auf, die Weltstadt, die Metropole Berlin zu besuchen.

Leider wurde unsere Reise gleich am ersten Bahnhof unterbrochen, da ein Selbstmörder es sich auf einer Brücke bequem gemacht hatte und auf unseren Zug wartete. Die Fahrt musste unterbrochen werden.

„Das ist so cool“, sagte Tim, der so etwas noch nie erlebt hatte. „Als wären wir in einem Film, was?“

„Ja“, lächelte ich ihn an und gab ihm eine Kopfnuss.

Die meisten Fahrgäste stiegen aus und beäugten den verzweifelten Mann auf der Brücke, vor der wir hielten. Einige schrien „Spring schon!“ oder „Du hältst den Verkehr auf!“, andere waren aufgeregt und fragten sich, ob er es wirklich tun würde.

Als wir zu den anderen Fahrgästen gestoßen waren, fragte ich mich das auch, und die Vorstellung, einen Mann von der Brücke springen zu sehen, machte mich doch sehr verlegen. Ich beschloss, lieber wieder einzusteigen. Matthias und Helmut blieben noch draußen, Tim suchte die Zugtoilette auf.

Nach einer knappen halben Stunde ging die Fahrt schließlich weiter. Den unzufriedenen Gesichtszügen einiger Mitreisender nach war der Mann nicht gesprungen. Ich atmete auf und freute mich wieder auf Berlin.

Nach zwei Stunden voller Langeweile kamen wir schließlich am Bahnhof Zoo an. Die Luft roch so anders als in Bitterfeld, sie war so viel aggressiver, herausfordernder, gefährlicher. Sie stank nach Freiheit.

Nachdem wir unser Hotel erreicht und unsere Sachen ausgepackt hatten, machten wir uns daran, die Stadt zu erkunden.

„Besuchen wir den Reichstag“, schlug ich vor.

„Nee!“ Helmut war strikt dagegen. „Hier gibt’s einen tollen Gothic-Shop, mit Klamotten, CDs, Büchern und Merchandising!“

„Aber das kannst du doch auch bei uns haben“, sagte ich, „wir sind hier für einen Tag in Berlin, da können wir nicht jedes x-beliebige Geschäft aufsuchen!“

Aber Helmut, der sich voll und ganz seiner Subkultur unterordnete und gegen jede Art von Kommerz war, blieb bei seiner Meinung: „Ich will dort mein Geld ausgeben!“

„Ich hab gehört, der Saturn hier ist zweistöckig“, meinte Matthias.

Daraufhin entbrannte eine heftige Diskussion darüber, welches Geschäft zuerst besucht werden würde und in welchen Club wir heute Abend gehen würden.

Nach einer langen und heftigen Shoppingtour, bei der Helmut das meiste Geld ausgab, suchten wir uns einen Sitzplatz, um wenigstens einige Minuten zu ruhen.

„Wir waren noch gar nicht in diesem Kaufhof“, begann Helmut. „Hey, wir sind so oft hier vorbeigegangen und haben den Kaufhof übersehen!“

Plötzlich erschrak Matthias: „O mein Gott, es ist acht Uhr! Die Geschäfte schließen!“

„Nur die Ruhe“, beschwichtigte ihn Helmut, „das ist Berlin, die Stadt, die niemals schläft. Die Geschäfte hier haben mit Sicherheit 24 Stunden am Tag geöffnet.“

Die Öffnungszeiten am Eingang belehrten uns eines Besseren. Der Konsum hatte jetzt eine Pause eingelegt.

„Nein!“, schrie Tim, „das ist doch Berlin!“

„Wir waren so naiv“, sagte jemand, wahrscheinlich Helmut.

Ich hingegen war erleichtert. Die Gefahr, sein ganzes Geld auszugeben, war gebannt, so konnten wir ins Hotel zurückkehren und Fußball gucken, ein feierlicher Ausklang dieses Tages stand bevor.

Aber dann hatte Tim diese Idee: „Seht ihr das Hotel da? Ist das riesig, fast so groß wie der Fernsehturm. Bestimmt hat es hundert Stockwerke. Kommt, besichtigen wir das Dach!“

„Ja, die Aussicht ist sicher herrlich!“

„Ich glaube nicht, dass das erlaubt ist“, warf ich ein. „Wir sind ja keine Gäste, und nur Gäste oder welche, die es werden wollen, dürfen da rein.“

„Wir steigen ja nur auf die Aussichtsplattform“, sagte Tim, „du Spießer.“

„Ohne mich!“, sagte ich strikt. „Macht, was ihr wollt, ich bleib hier sitzen.“

Fünf Minuten später befanden wir uns im Aufzug des Hotels. Und ich fragte mich nur eins: Warum war ich hier? Ich konnte jetzt im Reichstag sein und mich wie ein angesehener Politiker fühlen.

Das Hotel hatte übrigens nur 38 Stockwerke.

Als wir ganz oben waren, suchten wir vergeblich nach einer Tür, die uns zum Dach führte, aber alle möglichen Türen waren verriegelt.

Enttäuscht gingen wir zurück zum Aufzug, wo uns ein Liftboy erwartete. Er beäugte uns misstrauisch und fragte, so höflich wie möglich: „Sind Sie Gäste dieses Hotels?“

„Ja, er hier!“, sagte Helmut und deutete auf mich.

„Welche Zimmernummer?“, hakte er nach.

„Ähm, 2425 oder 2426, ich weiß nicht mehr so genau“, stammelte ich, innerlich vor Wut kochend.

Als wir unten angekommen waren, bat uns der Liftboy, mitzukommen. Er führte uns zu einer Reihe Security-guards, alles Knochenbrechervisagen, und mein Herz blieb beinahe stehen.

„Sind Sie Gäste dieses Hotels?“, fragte der Bulligste von allen.

„Nein!“, lautete die wie aus der Pistole geschossene Antwort von uns allen.

„Was haben Sie dann da oben gemacht?“

„Wir wollten die Aussicht genießen, aber dazu hatten wir keine Gelegenheit“, sagte Tim.

„Wir haben den Balkon nicht gefunden“, fügte Matthias hinzu.

Nach einer viel zu langen Pause fragte der Security-Typ: „Also gut, haben Sie irgendwelche Stifte dabei? Eddings, Filzer, Kulis? Spraydosen vielleicht?“

Natürlich antworteten wir wieder mit „Nein“, denn da waren wir uns wirklich sicher.

Nach einem kurzen „Hmm …“ des Securitybullen ließ dieser uns schließlich laufen.

Dass der uns für gewöhnliche Randalierer hielt“, sagte Helmut, „die haben’s nicht so mit Menschenkenntnis.“

Keiner sprach es aus, aber wir alle waren froh, dass das endlich vorbei war. Ich hatte mir bereits eine Nacht im Gefängnis ausgemalt und war ganz und gar nicht glücklich mit der Vorstellung.

Aber so nahm alles doch ein mehr oder weniger glückliches Ende. Am nächsten Tag fuhren wir los und dachten im Zug über alles noch mal nach. Ich hatte immer noch nicht den Reichstag gesehen. Helmut war nicht im Kaufhof. Tim war nicht auf dem Fernsehturm. Und Matthias war nicht im Starbucks. Doch trotz allem hatten wir sehr viel Spaß. Denn das war Berlin.

VACESLAV SAFAROV ist achtzehn Jahre alt und besucht das Carl-von-Ossietzky-Oberstufengymnasium in Wiesbaden. Infos zum Schülerschreibwettbewerb „Kaminer sucht den Superautor“ unter www.russendisko.de . Weitere Schülertexte zum Thema Heimat können noch bis zum 31. Januar eingereicht werden. Einen letzten Wettbewerbsbeitrag veröffentlicht das taz.mag in seiner übernächsten Ausgabe