Herz aus Eis

Gefühliger Kitsch oder Metapher einer lebensfeindlichen Welt? In Hans W. Geissendörfers Film „Schneeland“ gehen die Menschen an der unwirtlichen Landschaft hoch im Norden zugrunde

VON ANNA FISCHER

Es ist sehr romantisch: Nach Wochen der Einsamkeit sieht Aron (Thomas Kretschmann) einen vorbeihuschenden Schatten am Horizont. Beim Versuch, dem scheuen Wesen auf die Spur zu kommen, verstaucht er sich das Bein. Eine unsichtbare pflegende Hand legt ihm daraufhin nächtens Verband und Salbe ans Lager. Ohne sich je in die Augen geschaut zu haben, sind sie sich auf diese Weise bereits sehr zugetan, Aron und Ina (Julia Jentsch). Die eigentliche Zauberhand in dieser Liebesgeschichte aber spielt die Landschaft, eine ziemlich unwirtliche Gegend hoch im Norden Europas, jahrtausendelang von Gletschern geschrubbt. Wenige krüppelartige Hölzer wachsen hier, dafür scheinbar endlose Gräservarianten. Wie sollte man in der Verlorenheit von Lappland dem einzigen Menschen widerstehen, der einem begegnet und Geborgenheit anbietet? Erst recht, wenn er sich, wie Ina es tut, nackt in den kalten Wind stellt? So demonstriert sie ihrem Aron, dass sie nichts vor ihm verbergen will.

Hans W. Geissendörfers Romanverfilmung „Schneeland“ handelt von Glück und Unglück, Liebe und Tod, vor allem aber von der Erotik einer Landschaft. Die nämlich ist zugleich Projektionsfläche der Gefühle und deren Verstärker. Irgendwo unausgesprochen im Untergrund von Film und Buch steckt vielleicht sogar die Annahme, dass Landschaften Charaktere und Mentalitäten schaffen.

„Knövel“ (Ulrich Mühe), der Vater von Ina, könnte so eine Hervorbringung sein. Alles, was die Gegend an Unwirtlichkeit hergibt, scheint sich in ihm verdichtet zu haben: Er ist ein Despot am Ende der Welt. Seine Tochter schlägt er mit Genuss und zwingt sie unerbittlich nach dem Tod seiner Frau, ihm an deren Stelle auch sexuell zu Willen zu sein. Er glaubt, dass Gott ihm Recht gibt. So viel Gewalt und Schroffheit konzentrieren sich in ihm, dass für Ina nur das Sanfte und Demütige bleibt, das in dieser Landschaft auch steckt. Gleich zu Beginn zeigt der Film, wie sie den Schemel, auf dem sie die Prügel vom Vater empfängt, selbst aufbaut und sich darauf darbietet.

Erst spät beginnt sie zu rebellieren. Das sinnlose Wüten zehrt den Vater aus, während sie in der Liebe zu Aron erstarkt. Die Tochter kann nicht anders, als den Hinfälligen trotz aller Hassgefühle weiter zu pflegen. Der Vater, wissend um ihre Empfindungen, beschimpft sie pausenlos und fleht im nächsten Atemzug weinerlich um Liebe. Das ist auch für den Zuschauer nur schwer auszuhalten. Manchmal wünscht man sich, Geissendörfer würde weniger Körper und noch mehr Landschaft zeigen.

So ist man doch sehr froh, dass der 30er-Jahre-Naturalismus ab und zu durch eine Rahmenhandlung in der Gegenwart unterbrochen wird. In der trauert Elisabeth (Maria Schrader) um ihren verstorbenen Mann. Gerade noch waren sie samt Kindern glücklich vereint in einem schönen Haus mit riesigem Panoramafenster, dahinter endloser Schnee. Dann kommt ein Telefonanruf, Elisabeth schickt die Kinder zur Schwester und wandert selbst in die Kälte hinaus – auf der Suche nach dem Tod. Sie findet ihn in Gestalt einer erfrorenen alten Frau auf einem abgelegenen Hof. Wie der Zuschauer längst weiß, handelt es sich um Ina. Elisabeth, nun schon weniger zum Selbstmord entschlossen, sucht im Haus Schutz vor einem mehrtägigen Schneesturm und liest währenddessen in den Spuren von Inas Leben. Der Zuschauer wird dabei zwar etwas in die Irre geführt, aber man verrät wohl kaum zu viel, wenn man offenbart, dass Elisabeth über die Geschichte von Aron und Ina schon bald aus ihrer Trauer herausfinden wird.

Was der Erzählaufbau an Kitsch bereithält, wird durch das Horrorelement der Natur aufgewogen. Eine Frau mit erstarrten Gliedern im Schnee, ein Mann mit erfrorenem Lächeln im Eis – Wind und Wetter scheinen bestens dafür zu sorgen, dass Schuldgefühle hier nicht zu schnell in Vergessenheit geraten. Denn bei aller Romantik handelt diese nordische Geschichte nicht von der Freiheit der Wildnis, sondern von der Einschränkung des Glücks durch Schuld und Sühne. Was für ein deprimierender Gedanke.