Das Wunder von Wiesbaden

Herr Exner von der SPD oder: Wie Christopher Lee mich zum Volleyball-Fan machte

Was war noch gleich Volleyball? Ach ja, richtig, das war das, was man in der Oberstufe wählte, wenn sich partout kein gnädiger Arzt finden ließ, der einem bis zum Abitur absolute Sportuntauglichkeit attestieren wollte. Mehr wusste ich nicht darüber, und es gab auch wenig, was mich weniger interessiert hätte. Volleyball – bääh … Fußball – ja vielleicht, wenn gerade Weltmeisterschaft ist, aber Volleyball …

Umso verdutzter war ich, als ich am vergangenen Samstag plötzlich feststellen musste, dass ich in einer Sporthalle stand und fanatisch meine Lieblingsvolleyball-Mannschaft anfeuerte. Ich! Volleyball! Auch noch eine Frauenmannschaft, dabei sehe ich mir doch viel lieber Männer an! Wie konnte das passieren? Was war geschehen? Wie war ich hier hergekommen? Ich ließ die letzten Wochen Revue passieren um Klarheit über meine seltsame Lage zu gewinnen:

Schon seit längerer Zeit hatte ich meine Umwelt kirre gemacht, denn ich hatte mir in den Kopf gesetzt, den großartigen, gottgleichen und anbetungswürdigen Filmschauspieler Christopher Lee zu treffen. Christopher Lee! Mein Idol seit ich elf Jahre alt war und wir den ersten Fernseher bekamen. Der erste Film, den ich heimlich allein ansah, war „Dracula“, und ich hatte eine schreckliche Angst dabei. Damit hatte Herr Lee mein Herz gewonnen. Ich aber hatte wirklich alles versucht, um irgendeine Möglichkeit zu finden, Herrn Lee zu kontaktieren: Ich fragte Kollegen, ich mailte einem wildfremden Kanadier, der im Internet behauptet hatte, Herrn Lees E-Mail-Adresse zu kennen, ich belästigte die Sekretärin des Berlinale-Chefs, ich schrieb zwei Schönschriftbriefe an Herrn Lees Londoner Agentur – alles vergebens, niemand antwortete oder wusste Rat. Zuletzt durchsuchte ich verzweifelt die Nachrichtenticker vom Jahr 2000 bis heute – und da! Da war es! Eine Nachricht von 2002 vermeldete, dass der ehemalige Oberbürgermeister von Wiesbaden, Achim Exner (SPD), mit Herrn Lee befreundet ist. Das war sensationell, und schnell hatte ich Herrn Exners E-Mail-Adresse.

Der freundliche und warmherzige Herr Exner rief mich schon bald an, gab mir, wenn auch mit leichten Bedenken, Herrn Lees private Faxnummer und sagte: „Wenn Sie mal irgendwann in dieser Gegend sind, dann möchte ich Ihnen noch zwei Flaschen Christopher-Lee-Wein schenken.“ Christopher-Lee-Wein? Den Wein wollte ich selbstverständlich gern haben, und Herr Exner war am Telefon so außerordentlich nett. Also nichts wie ab nach Wiesbaden! Etwas mulmig war mir schon, denn ich kannte Herrn Exner ja gar nicht und wusste von ihm nur, dass er 60 Jahre alt war. Aber es war ein sehr schöner Empfang in seinem Büro, einer ehemalige Waschmaschinenwerkstatt namens „Achim’s Rat-Haus“.

Das „Rat-Haus“ ist ein Ort, zu dem Menschen gehen, die woanders nicht weiter kommen oder nicht weiter wissen. Herr Exner hat dort schon eigenhändig viele, viele Hartz-IV-Unterlagen ausgefüllt, und auch sonst Rat und Hilfe verteilt. „Manchmal ist es hier voller als beim Zahnarzt!“, sagte er, und das konnte ich mir sehr gut vorstellen!

Herr Exner schenkte mir tatsächlich die zwei Flaschen Christopher-Lee-Wein, die er mir versprochen hatte. Es waren die letzten beiden Flaschen aus der limitierten und nummerierten Ausgabe eines Weinguts, die er mir schenkte – kaum zu fassen! Ich schenkte ihm im Gegenzug wenigstens ein Buch.

Herr Exner erzählte mir lustige Geschichten, wie er zum Beispiel einmal zufällig Johannes Heesters in einer Kneipe getroffen und mit ihm die Nacht durchzecht hatte: „Damals war er ja noch jung, erst 92 Jahre.“ Und er erzählte vom VC Wiesbaden, dem Volleyballverein, dessen Manager Herr Exner ist und der zufällig am selben Abend ein Heimspiel hatte, zu dem Herr Exner mich einlud. „Na gut“, dachte ich mir, „dann gucke ich mir halt ein langweiliges Volleyballspiel an, was soll’s?“

Auf das Schlimmste gefasst, machte ich mich auf den Weg zur Sporthalle. Um sieben Uhr sollte das Spiel beginnen, um sechs Uhr war die Halle bereits restlos ausverkauft, man hatte extra Podeste aufbauen müssen, damit 1.200 Zuschauer Platz hatten. Ein DJ heizte ein, es gab Pizza und Prosecco zum sagenhaften Preis von nur einem Euro, ganze Familien waren angereist, die Atmosphäre knisterte, es herrschte Volksfeststimmung mit Trommeln, Trompeten, Krach, Spaß, ein Fanclub hüpfte herum – und mittendrin heizte Herr Exner gleich einem Brummkreisel von einer Ecke in die nächste, von rechts nach links, tätschelte mal hier eine Wange, begrüßte mal dort einen Bekannten, dann dröhnte wieder Musik, Lichtwechsel, Farbenspiele, Bälle, Beine, die Spielerinnen wurden begrüßt wie Boxweltmeister – und ehe ich es bemerkt hatte, war ich schon zum VC-Wiesbaden-Fan geworden. Jetzt weiß ich endlich, wo ich hingehöre. Und ich werde mir meinen Verein sicher so oft es geht ansehen, auf dass auch ich bald solch kluge Sätze in einen Spielbericht einfließen lassen kann: „80 Prozent der Angriffe erfolgten über die vier, eine indisponierte Not-Libera musste von der sechs aus spielen und damit den Hinterfeldabgriff über diese Position verhindern.“

Meine Mannschaft übrigens hat mit liebenswerter Konsequenz drei Sätze hintereinander total versemmelt, und Herr Lee hat mir immer noch nicht geantwortet. CORINNA STEGEMANN