„Es waren die letzten Zeugen des Völkermords“, sagt Andreas Kilian

Der Film „Die Grauzone“ behandelt ein viel zu lange tabuisiertes Thema: die Sonderkommando-Häftlinge in Auschwitz

taz: Herr Kilian, der Täter, der Mensch im Zentrum der Vernichtung, war lange kein Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung. So auch beim Thema der Sonderkommandos. Wann hat sich das geändert?

Andreas Kilian: Mit Gideon Greifs Interviewband „Wir weinten tränenlos“. Das Thema wurde 1995 durch dieses Buch neu belebt. Auch wurden erst zu diesem Zeitpunkt Fachkreise wieder darauf aufmerksam, denen nicht bekannt war, dass Mitte der Neunzigerjahre noch etwa 25 ehemalige Sonderkommando-Häftlinge am Leben waren. Vorher sind alle Versuche, das Thema systematisch zu untersuchen, gescheitert.

Ist aus dieser systematischen Arbeit auch Ihr Buch „Zeugen aus der Todeszone“ (2002) hervorgegangen?

Ja, erstaunlicherweise war es die erste Monografie zu den Sonderkommandos, in der die neuesten Forschungsergebnisse und relevanten Daten verarbeitet wurden.

Trifft man heute immer noch auf die gleichen Vorbehalte oder hat die Aufarbeitung inzwischen zu einem Wandel geführt?

Es ist immer noch ein Tabuthema und vor allen Dingen, es ist auch ein sehr schmerzhaftes Thema für ehemalige Auschwitz-Häftlinge, die viele Angehörige verloren haben. Es gibt ganz konkret Überlebende, die mir und anderen gesagt haben: „Ja, die Sonderkommando-Häftlinge das sind doch Mörder, die sind nicht besser als die SS.“

Kommt hier nicht dem Film „Die Grauzone“ von Tim Blake Nelson (USA 2002) eine wichtige Rolle zu, da er direkte Einblicke in die Arbeit und Funktion der Sonderkommandos gewährt?

Ja, aber nur, wenn man zu dieser Auseinandersetzung bereit ist. Und darin liegt die Gefahr des Films. Wenn man die Dialoge genau analysiert, kann man sehr wohl das Dilemma erkennen und auch zu dem Schluss kommen, es waren gar keine Kollaborateure, es waren verzweifelte Männer. Genauso gut kann man, wenn man diese Vorbehalte schon hat, sich bestätigt sehen und sagen: Der Film führt doch vor, dass es Mörder waren. Die schlimmsten Szenen, die auch den Film selbst zu einer Grauzone machen, zeigen, wie Sonderkommando-Häftlinge die Gaskammertüren schließen. Das war so nie der Fall. Das wäre ein Indiz der Mittäterschaft. Das ist historisch falsch.

Die Darstellung im Film resultiert aus einem sehr persönlichen Zugang des Regisseurs zum Thema. Wie schätzen Sie als Historiker ihn ein?

Man darf diesen Film nicht zu historisch betrachten. Denn wenn man das tun würde, müsste man sehr schnell zu dem Schluss kommen, dass eine authentische Darstellung historischer Abläufe oder eine historische Dokumentation nicht gelungen ist. Letztlich ist das ja auch unmöglich. Aber ich denke, das ist auch überhaupt nicht die Absicht des Films, und in dieser Hinsicht kann ich damit gut leben.

Sie selbst sind vor mehr als einem Jahrzehnt unter anderem durch den Dokumentarfilm „Shoah“ zu diesem Thema gekommen. Der Regisseur Claude Lanzmann gehört zu den vehementesten Verfechtern des so genannten Bilderverbots. „Wer Auschwitz ins Bild setzt“, hat er einmal gesagt, „macht sich der schlimmsten Übertretung schuldig.“ Heute unterstützen Sie einen Film, der den Zuschauer visuell ins Zentrum der Vernichtung führt. Wie lässt sich das miteinander vereinbaren?

Zum einen bin ich gegen Verbote dieser Art. Man muss das Thema künstlerisch, also fiktional bearbeiten dürfen. Ich halte von diesen Verboten überhaupt nichts, zumal das Thema die Menschen ja ohnehin beschäftigt und nach Ausdrucksformen verlangt. Ich werde oft gefragt, ob man das überhaupt fiktional darstellen kann. Und da muss ich schlicht und ergreifend antworten: Man kann! Die Ergebnisse sieht man ja im Kino. Ob man das darf, ist eine andere Frage. Entscheidend ist für mich die Frage, wie es dargestellt wurde.

Nelson hat mit seinem Spielfilm den Weg der Fiktionalisierung und Dramatisierung beschritten. Ist diese persönliche Annäherung an das vielleicht dunkelste Kapitel der Shoah der richtige Weg, um das Thema aus seiner Grauzone zu befreien?

Ich habe großen Respekt davor, dass der Regisseur das Thema umsetzen konnte, dass er es überhaupt umgesetzt hat. Das ist auch eine Art Wertschätzung für diese Arbeit, weil ich der Ansicht bin, dass sich der Regisseur, selbst wenn er sich historisch nicht sehr tiefgründig mit der Thematik auseinander gesetzt hat, doch auf seine Art und Weise intensiv damit beschäftigt hat. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schmerzhaft und anstrengend das ist. Deshalb finde ich es so wichtig, dass dieser Film in Deutschland gezeigt wird, gerade im Vergleich zu Filmen wie „Der Untergang“, „Babij Jar“ oder „Napola“ . Man muss sich vorstellen: Sonderkommando Auschwitz, die Krematorien von Auschwitz, das war in der Tat die Endstation und das Zentrum der nationalsozialistischen Massenvernichtung. Und das Sonderkommando hat in diesem Zentrum gearbeitet. Es waren also die letzten und die einzigen Zeugen des systematischen Völkermords an den europäischen Juden.

INTERVIEW: BERNHARD ANDRÉ

Der Film kommt heute in die Kinos. Filmkritik auf SEITE 16