Kurdische rote Linie gegen die Schiiten

Die Kurden im Norden des Irak freuen sich über das gute Abschneiden ihrer Kurdistan-Koalition bei den Wahlen. Doch über die Zukunft Kurdistans sind sie uneins, und die Mehrheit des schiitischen Blocks im Parlament bereitet ihnen Kopfzerbrechen

AUS ERBIL INGA ROGG

Der Zeitungshändler am Fuße der Burg von Arbil hat an diesem Vormittag einen ganz besonderen Service für seine Kunden bereit. An die Wand hinter seinem Stand hat er eine Kopie mit den am Sonntag bekannt gegebenen Ergebnissen von den Wahlen im Irak geheftet. Vornüber gebeugt stehen ein paar ältere Männer in Pluderhosen und Turbanen davor und studieren den Aushang. „Es ist so wunderbar“, sagt Sirwan Nechir. „So viele Stimmen für die Kurden – herrlich, einfach herrlich.“ Es ist, als könne der 32-Jährige das Glück noch gar nicht fassen, das den Kurden am Sonntag zuteil wurde. Knapp 26 Prozent der Stimmen und damit 75 Sitze hat ihre Kurdistan-Koalition bei den Wahlen für die irakische Nationalversammlung geholt.

Für den Zeitungshändler bedeutet das Wahlergebnis den Beginn einer neuen Ära. „Jetzt kann der Aufbruch in die Demokratie und in den Föderalismus beginnen“, sagt er. Seine Heiterkeit und Zuversicht sind so gewinnend, dass man es sofort glauben möchte. Nur einen Wermutstropfen gibt es für ihn: „Hier haben sie den Erfolg leider nicht gefeiert“, sagt er.

Als am Sonntagabend im Fernsehen die Wahlergebnisse verkündet wurden, veranstalteten kurz darauf ein paar Autofahrer ein Hupkonzert, das aber wenige Minuten später wieder genauso schnell verklang, wie es ausgebrochen war. Dagegen zogen in Suleimania, der anderen kurdischen „Hauptstadt“, den ganzen Abend die Feiernden in Autokorsos durch die Straßen. Der Grund für die unterschiedliche Stimmung ist einfach: Suleimania ist eine Hochburg der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), während in Arbil die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) tonangebend ist. Zwar sind die beiden Traditionsparteien, deren Vormachtstellung bei den Wahlen erneut bestätigt wurde, unter einem gemeinsamen Dach für die Wahl zur Nationalversammlung wie für das kurdische Regionalparlament angetreten. Beide wollen für Kurdistan eine möglichst große Unabhängigkeit von Bagdad erreichen, und vor allem Kirkuk unter kurdische Kontrolle bringen. Doch während die PUK dabei darauf setzt, den Einfluss der Kurden in Bagdad zu stärken, drängt die KDP auf eine Abspaltung vom Rest des Landes. PUK-Chef Dschalal Talabani möchte als erster Kurde in der Geschichte Staatspräsident des Irak werden.

Massud Barzani von der KDP hingegen wäre lieber heute als morgen Präsident eines unabhängigen Kurdistans. Dabei hat er zumindest die Stimmung unter den Kurden auf seiner Seite. In einem „Referendum“, das parallel zu den Wahlen abgehalten wurden, stimmten 98 Prozent für die Unabhängigkeit.

Während die PUK das Abschneiden der Kurden in ihrer Zeitung als großen Erfolg feiert, ist Khasrwo Jaf vorsichtiger. Der 60-jährige Architekt und Autor, der mit seinen langen grauen Haaren eher wie ein Hippie in Anzug und Krawatte aussieht denn wie ein Politiker, zieht für die Kurdistan-Koalition in die Nationalversammlung ein. Seine größte Sorge ist derzeit das schiitische Übergewicht. „Für uns gibt es eine rote Linie“, sagt Jaf. „Wenn sie eine islamische Regierung durchsetzen wollen, sind wir draußen. Wir wollen hier doch keinen Klein-Iran, nachdem wir gerade Saddam losgeworden sind“, sagt Jaf. Doch das ist nicht die einzige Trennlinie. Es geht auch um die Wiederherstellung der alten Provinz Kirkuk mit ihrer kurdischen Mehrheit, den Föderalismus und die Trennung von Moschee und Staat.

Während die Spitzen von KDP und PUK derzeit mit allen Seiten über die Bildung einer Übergangsregierung verhandeln, bereitet sich Jaf innerlich schon auf das Scheitern der Regierung vor.

Er befürchtet, dass der schiitische Block eine Diktatur der Mehrheit, wie er es nennt, durchsetzen möchte. „Wir hatten Jahrzehnte eine Diktatur der Minderheit“, sagt er in Anspielung auf das sunnitisch geprägte Saddam-Regime. „Es reicht mit den Diktaturen.“ „Wenn unsere Forderungen nicht erfüllt werden, ziehen wir uns zurück“, sagt Jaf. „Bis zur nächsten Wahl.“ Diese stünde dann in 15 Monaten an. Ohnehin ist die jetzige Phase für den Literaten und Politiker nur eine Übergangszeit. „In zwanzig, dreißig Jahren sieht hier alles anders aus.“ Dann spätestens wäre die Zeit reif für den eigenen Staat. Dass es so weit kommt, daran zweifelt er nicht.

Einen ersten Schritt dahin haben die Kurden bei der Wahl getan. Bei den Wahlen zum Provinzrat von Kirkuk hat die von ihnen angeführte Liste der „Brüderlichkeit“ beinahe 60 Prozent der Stimmen errungen. Ganz offensichtlich haben auch viele Turkmenen und Araber für die Liste gestimmt, da die Stimmenmehrheit sonst nicht möglich wäre.