Terrain der Träume

Berlinale Star-Album (6): Jule Böwe

Als glitzerten über dem Potsdamer Platz tausend Sterne – Lichterketten. Wie vergessen hängen sie an Häusern und Bäumen. Baumeln im Wind. Die Sehschärfe verschimmt. Die Leinwandträume erobern sich Terrain. Auch draußen. Großes Berlinale-Traumwandeln. Tag sieben bricht an.

„Hi, ich bin Jule.“ Jule Böwe. 35. Sie reicht ihre Hand. Lächelt. Offenheit. Die Jungs auf der Treppe im Cinemaxx blicken kurz auf. Sehen ihr nach. Unaufgeregt. Jule Böwes Gesicht – es fällt auf. Die Jungs blicken wieder auf ihre Programmhefte. Jule Böwes Gesicht – noch erkennt es keiner. Obwohl sie Theater spielt. Sehr erfolgreich. An der Schaubühne in Berlin. Obwohl sie in einigen Fernsehfilmen gespielt hat. Jetzt ist sie „Doris“. Das melancholische, manchmal wütende, manchmal blitzglückliche – und immer sehnsüchtige Mädchen aus „Katze im Sack“. Ein junger deutscher Film. Nachwuchs. Preisgekrönt. Neue Bilder erobern sich Terrain. Perspektive deutscher Film. Auf der Berlinale. Ab April bundesweit. Jule Böwes erster Kinoauftritt.

„Das Schöne, das Spannende an dieser Frauenfigur ist“, sagt Jule Böwe, „dass sie nicht psychologisiert ist, nicht erklärt wird.“ Biografie spielt die Nebenrolle. Kellnerin Doris. Aus Leipzig. Trifft auf Karl. Streuner. Cowboy. Still. Straight. „Ein Rocker“, sagt Florian Schwarz, der Regisseur. Souverän. Und unsicher. Oft sehnsüchtig. Begegnung für einen Tag und eine Nacht.

„Ein Liebesfilm für alle, die keine Liebesfilme mögen.“ Sagt das Plakat zu „Katze im Sack“. Ein Experiment. Traumwandlerisch. Melancholisch. Manchmal komisch. „Die Komik des Lebens“, sagt Jule Böwe.

Einen Kinosaal weiter, in Taiwan, bringen Hausbewohner im Wettbewerbsbeitrag „The Wayward Cloud“ einen Porno zum Abschluss. Die Hauptdarstellerin ist tot – macht nichts. Ein Tabu gefallen. Die Sehnsucht gewinnt.

Auf der Soundspur eine Frage, eine Feststellung, ein Suchen: „Why Pourquoi“, singt die Band Slut. Indierocknachwuchs. Der Takt, nach dem sich die Katze im Sack bewegt. Musikfernsehtauglich. Der Clip zum Film routiert auf MTV und Viva.

„Stoffe werden wieder sehr kompromisslos erzählt“, sagt Florian Schwarz. Neue Radikalität. „Produzenten und Filmförderungen sind offener für Experimente.“ Junger Aufbruch. Neue Gesichter.

Draußen unter den Lichtersternen läuft Zeitraffer. Als hetzten all die Menschen mit all ihren weinroten Berlinale-Taschen ein klein wenig langsamer. Festivalüberhitzung. Warten. Und Jagen. Nach den magischen Momenten. Zwei Tage.

Nur noch zwei Tage. Bis die Sterne ihr künstliches Glitzern ausschalten. SUSANNE LANG