kuckensema: auf Bremens Leinwänden
: „Geschichten aus Javé“ von Eliane Caffé – Erzählen gegen die Flut

Auf der Berlinale hat gerade der im Forum gezeigte chinesische Dokumentarfilm „Before the Flood“ den Caligari-Filmpreis gewonnen. Er erzählt von der Umquartierung der Bewohner von Fengjie, deren Heimatstadt beim Bau des riesigen „Drei Schluchten-Staudamms“ im Wasser versinken soll.

Im Hinterland von Brasilien haben die Dörfler des Bauernkaffs Javé das gleiche Problem, doch sie versuchen sich gegen die Flutung ihrer Heimat zu wehren. Wenn nur ihr Örtchen als bedeutende Kulturstätte anerkannt werden würde, dann müsste der Staudamm halt irgendwo anders gebaut werden. Aber was kann an ein paar schäbigen Hütten an einer staubigen Dorfstraße, die von einer Handvoll kauziger Bauern bewohnt werden, kulturell wertvoll sein? Ein Gründungsmythos, in einem bedeutenden Werk aufgeschrieben, dass wäre die Lösung. Keiner würde es wagen, Macondo unter Wasser zu setzen, nachdem Gabriel Garcia Marquez es in „Hundert Jahre Einsamkeit“ unsterblich gemacht hat.

Nun ist es schwierig, in einem Ort voller Analphabeten einen Verfasser für diesen literarischen Rettungsring zu finden. Einzig der ehemalige Postbeamte Antonio Biá kann schreiben, doch der wurde mit Schimpf und Schande aus dem Dorf gejagt, weil er selber die Briefe schrieb, die er dann austrug, um so seinen Job zu erhalten, und dabei schlimme Gerüchte über die Dorfbewohner verbreitete. Ein Filou also, aber die Dorfbewohner müssen ihm vertrauen, und so übergeben sie ihm ein großes, schön gebundenes Buch, in dem er die glorreiche Chronik von Javé aufzeichnen soll. Das kann natürlich nicht gut gehen, und so ist „Geschichten aus Javé“ von der brasilianischen Filmemacherin Eliane Caffé eine Burleske. Auf den ersten Blick fast ein Bauernschwank – wenn nicht die Überflutung des Ortes drohen würde. Der Schreiber ist plötzlich der mächtigste Mann im Ort, und er verlangt gleich vom Friseur, ein Jahr lang umsonst rasiert zu werden, wenn er dessen kleine Geschichten ins große Buch schreiben soll. Über seiner Tür steht der paradoxe Schriftzug „Eintritt für Analphabeten verboten“, und sein Bleistift bewegt sich verdächtig wenig, während ihm doch jeder im Dorf seine ganz persönliche Legende von dessen Gründung erzählt. Aber wie soll er auch all diese wundersamen Geschichten zu einem „wissenschaftlichen“ Erzählstrang zusammenführen? Jeder hat eine eigene Version, und deshalb ist der Originaltitel des Films „Narradores de Javé“, also „Die Erzähler von Javé“, viel zutreffender. Einige Dorfbewohner behaupten, direkte Nachfahren von Indalécio, dem Gründervater von Javé, zu sein, der vor den Konquistadoren floh und heldenhaft in einer Schlacht starb. Nein, an Durchfall sei er gestorben, sagen andere. Die Frauen des Dorfes haben mit Mariadina eine feministische Heldin, die einst die führerlosen Truppen über den Fluss geführt und das Dorf gegründet hat. Und für die Nachkommen der Sklaven ist Javé „ein Dorf in Afrika“, und die Gründer heißen Indalo und Oxum. Zuerst versucht Biá noch, all diese Erzählstränge zu einer Geschichte umzudichten und auszuschmücken, denn „aus dem der schielt, wird ein Blinder, aus dem der hinkt, ein Einbeiniger. Das ist Schreiben.“ Aber es kann kein brasilianischer Homer aus ihm werden, denn jeder im Dorf beharrt kleinlich auf seiner Version der Geschichte. Und so kommt in einer bösen Pointe des Film ausgerechnet einer der von den Dammbauern beauftragten Ingenieure bei seinem Besuch des Dorfes dessen Mythos am nächsten, wenn er die Bewohner direkt in seine Digitalkamera sprechen lässt und sie dabei zeigen, dass ihre Kraft und Poesie in der mündlichen Überlieferung liegt, die durch das Aufschreiben kastriert wird.

Eliane Caffé ist oft deftig und hemmungslos albern, und dabei merkt man erst langsam, wie kunstvoll und raffiniert ihr Film verschachtelt ist. Die Geschichten von Javé sind ihrerseits in die Geschichte eingebettet, die in einer Rahmenhandlung ein Mann an einem Fluss den auf die Fähre Wartenden erzählt. Die verschiedenen Mythenpartikel der Dorfbewohner sind als Rückblenden in einem der jeweiligen Geschichte entsprechenden Stil zwischen Historienkitsch und nüchternem Schwarzweiß aufgenommen. Vom Erzählen selber in seinen unterschiedlichsten Formen wird hier erzählt. So soll Biá auch nach dem Exodus der Dörfler weiter an der Chronik des Ortes schreiben, denn solange es seine Geschichten gibt, kann Javé nicht gänzlich untergehen.

Wilfried Hippen

„Geschichten aus Javé“ von Eliane Caffé läuft in der Originalfassung mit Untertiteln von Do bis Sa um 20.30 sowie am So & Di um 18.00 im Kino 46