Jedem Patienten sein Waterloo

Wissenschaftler nutzen Napoleons Niederlage zur Grundsatzkritik an der Notfallmedizin: Die Selbstheilungskräfte würden zu wenig berücksichtigt

Fast zwei Jahrhunderte ist es her, dass Napoleon in der Nähe von Brüssel sein großes Waterloo erlebte. Eine Schlacht, die Geschichte machte, nicht zuletzt deshalb, weil in ihr zigtausend Menschen ihr Leben verloren. Doch ausgerechnet dieses Gemetzel nehmen jetzt britische Forscher zum Ansatz, um grundsätzliche Zweifel an der heutigen Notfallmedizin anzumelden.

Ein Forscherteam des University College in London untersuchte die Überlebensraten britischer Soldaten, die bei Waterloo verwundet wurden. Demnach verloren von 52 Soldaten, die durch Säbelhiebe, Gewehrkugeln oder Kanoneneinschläge schwerste Verletzungen davontrugen, lediglich zwei das Leben.

Für Studienleiter Mervyn Singer ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich die meisten Soldaten von ihren schweren Wunden erholten, „obwohl es noch keine Antibiotika, Bluttransfusionen, lebenserhaltende Maschinen oder andere Utensilien moderner Intensivmedizin gab“.

Laut Singer sind die Waterloo’schen Zahlen ein Beleg dafür, dass die moderne Notfallmedizin die Fähigkeit des menschlichen Körpers zur Selbstheilung unter Extrembedingungen unterschätzen würde. Außerdem sei es in den letzten Jahren trotz allen medizinischen Fortschritts nicht gelungen, die Sterberate durch Blutvergiftungen entscheidend zu senken.

Waterloo wäre laut Singer auch als Aufforderung an die Notfallmedizin zu sehen, in Bezug auf das multiple Organversagen umzudenken, das auf Intensivstationen als Todesursache Nr. 1 gehandelt wird. Möglicherweise sei ja der gleichzeitige Ausfall mehrerer Organe nichts anderes als der „letzte Versuch des Körpers, sich selbst aus einem extrem kritischen Zustand zu befreien“. Wenn also Notärzte hier mit hektischem Aktionismus gegensteuern würden, sei dies kontraproduktiv.

Privatdozent Markus Weigand von der Heidelberger Universitätsklinik für Anästhesiologie hält es allerdings für problematisch, Waterloo für eine Kritik der modernen Notfallmedizin heranzuziehen: „Denn die Verletzungen von damals wurden nicht in demselben Maße dokumentiert, wie es heute üblich ist.“ Zudem seien die Kriegswunden von damals nicht mit denen von heute und erst recht nicht mit den Verletzungen durch einen Autounfall zu vergleichen.

Auch würden mehrere Studien belegen, dass die Todesrate bei Blutvergiftungen in den letzen Jahrzehnten durchaus zurückgegangen sei. Am Heidelberger Klinikum ermittelte man, dass in den 60er-Jahren noch 60 Prozent der Patienten verstarben, die mit einem septischen Schock eingewiesen wurden – „heute sind es nur noch etwa 40 Prozent“, so Weigand.

Nichts Neues ist dafür laut Weigand die These, wonach der Mehrfachausfall von Organen als natürliche Überlebensstrategie zu werten sei. Der Körper ist also tatsächlich imstande, unter akutem Überlebensstress einzelne oder mehrere Organe regelrecht abzuschalten, um dadurch Kräfte zu sparen. „Doch diesen Umstand zu berücksichtigen“, erklärt Weigand, „ist bei uns schon länger Teil des Versorgungskonzepts.“ Wenn etwa bei einem Patienten die Nieren ausfallen, lässt man deren Arbeit durch entsprechende Maschinen verrichten, damit das Organ pausieren und sich erholen kann.

Auch Antibiotika werden nur möglichst kurz verabreicht, um den Körper schneller zur Selbstheilung zurückfinden zu lassen. „Wenn jedoch ein Unfallopfer aufhört zu atmen“, so Weigand, „müssen wir eingreifen.“ Denn dann blieben dem Patienten nur noch wenige Minuten zu leben.

JÖRG ZITTLAU