Bumsen und Quatschen

Erschütternd komisch: wie die bundesdeutsche Spontiszene in den Siebzigerjahren zu sich selbst fand. Irgendwie. Vielleicht …

VON MARTIN REICHERT

„Also ich möcht mal ’ne Orgie mitmachen, wenn jemand eine macht, dann den Jens anrufen.“

Es handelt sich um eines jener Bücher, die man unbedingt öffentlich lesen sollte. Es ist sehr schön, in der S-Bahn oder im Bus Lachanfälle zu bekommen, weil die durchschnittlich griesgrämigen Mitreisenden irgendwann mitlachen müssen: „Abiturient, verklemmt, in Bälde total frustriert, eventuell versteckter Minderwertigkeitskomplex, sucht in etwa äquivalentes Mädchen“. Stünde diese Anzeige in einem heutigen Stadtmagazin, wäre es nicht komisch, sondern Ausdruck einer längst standardisierten Pflicht zur Selbstironie. Allerdings stammt dieser Text aus der Kleinanzeigensammlung „Werktätiger sucht üppige Partnerin“, einer Art Subkulturgeschichte der Siebzigerjahre (Antje Kunstmann Verlag, München 2005, 144 Seiten, 9,90 Euro).

Sie handelt von Bewegungen – genauer: juvenilen Suchbewegungen in der Bundesrepublik nach 1968. Anders leben, jetzt, hier. Nicht irgendwann! Und vom „Bumsen“, so sagte man damals für „Poppen“. Allerdings gehörte das ja damals alles zusammen, das Anders-Leben, die Politik, das Bumsen: „Bin ein schwarzhaariger schlanker Jüngling mit weitläufigen Emanzipationsvorstellungen (die aber gegenüber bürgerlichen Individuen nicht verwirklicht werden können wegen der landläufigen Moral) und suche, um meinen sexuellen Erfahrungsbereich zu erweitern, ein dickes Mädchen zum Bumsen.“ Der schwarzhaarige Jüngling meint das ernst, denn wir befinden uns im Jahr 1975, ein Jahr aus einer ernsthaften Zeit, in der uneigentliches Sprechen noch nicht gängig war.

Der Jargon dieser Zeit ist heute nur noch ein Witz: „Gut, dass wir drüber geredet haben“, ein zwischen den Zähnen herausgepresstes „Das finde ich jetzt aber echt total scheiße, was ihr hier macht.“ Ein Sujet für Anke Engelkes Comedy oder so genannte Hängengebliebene. Die anderen sind ja längst angekommen, sind nach Hause zurückgekehrt, um die elterliche Fleischerei zu übernehmen – und Betroffenheitsgestus und rigorose moralische Haltungen haben im Zeitalter der Ironie keinen Platz mehr.

Herausgeber Franz-Maria Sonner hat seinen Band mit Kleinanzeigen aus dem Blatt – Stadtzeitung für München zusammengestellt. Das Blatt ist von 1973 bis 1984 vierzehntäglich erschienen und war eine Platfform der „undogmatischen“ Spontiszene jenseits der K-Gruppen, damals bereits illustriert durch den Karikaturisten Gerhard Seyfried („Freakadellen und Bulletten“), dessen großnasige Gestalten mit Angela-Davis-Frisuren und Polizeiuniformen auch die am 5. März im Kunstmann Verlag erscheinenden „ethnologischen Miniaturen“ begleiten. Seyfried war und ist ein „Schmunzelklassiker“, die Kleinanzeigen aus dem Blatt jedoch waren zumeist todernst gemeint. Das macht sie aus heutiger Perspektive erschütternd komisch.

Herausgeber Franz-Maria Sonner, Jahrgang 1953, findet, dass ruhig gelacht werden darf. „Man sieht sich selbst in einer Kontinuität, dabei ist längst ein riesiger Abstand zu der Zeit entstanden, in der man jung war“, erklärt er. Auch die anderen dürfen lachen, also die, die damals nicht dabei waren oder noch nicht geboren waren und heute ganz selbstverständlich von jenen gesellschaftlichen Liberalisierungen profitieren, die damals „errungen“ wurden – die eigentliche Revolution der 68er war schließlich ein tief greifender kultureller Wandel, der in den 70er-Jahren erprobt wurde, kiffend, labernd, suchend. Verständlich, dass man sich dabei gelegentlich verlaufen konnte: „Toleranter Linker möchte Materialien sammeln für Aufsatz über faschistoide Tendenzen innerhalb der WG-Alternativ-Frauen-/Männer- und Therapiebewegungen. Z. B. Idiosynkrasien und Feindbildideologie, Prüderie und Geschlechterrassismus, Mystizismus und biologistische Gesellschaftsinterpretation, Konformismus und kollektive Bewusstseinsverengung. Zur Relativierung meiner eigenen Eindrücke bräuchte ich persönliche Erfahrungen anderer“.

Die Idee für das Buch war aus der Verlegenheit entstanden, eine Geburtstagsrede halten zu müssen, eine Rede zum fünfzigsten Geburtstag eines Freundes – so alt ist man heute, wenn man in den 70er-Jahren jung war. Sonners Problem war auch: Wie erklär ich’s meinem Kinde? Also das, was man damals so getrieben hat. Er hat dann einige Anzeigen aus der wilden Jugendzeit zusammengesucht, „alle haben sich gebogen vor Lachen“. Im letzten Sommer hat er dann sämtliche Jahrgänge der Münchener Stadtzeitung mit nach Hause genommen und studiert. Nicht alles findet er im Nachhinein zum Lachen. Die Kleinanzeigen im Blatt waren eine Art schwarzes Brett, damit Gebrauchtes von Hand zu Hand weitergereicht werden konnte, ein Versuch, die „Konsumfixiertheit“ der Mehrheitsgesellschaft subkulturell zu unterlaufen: „Wer schenkt mir zum Geburtstag einen Plattenspieler oder Ähnliches? Für die ganz Geldgierigen darf er auch ein ganz klein wenig kosten.“ Eine Schnorrerhaltung, die Sonner auch im Nachhinein noch nervtötend findet: „Alle wollten immer alles geschenkt haben, weil man ja im Gegensatz zu anderen zu wenig abbekommen hatte.“ Und dann die ganzen Solidaritätsveranstaltungen: „Dann kommt man dahin und es gibt nicht mal was zu essen. Dieser schwäbische Geiz: Wie, du willst Honorar?“ – daran hat sich laut Sonner immer noch nichts geändert. „Anstatt für wochenlange Arbeit, die Reisekosten und weitere Arbeitsmöglichkeiten je DM 3.000, – zu verdienen, müssen wir jetzt je DM 311,21 zuzahlen. Und das weil einige 800 Besucher ohne zu zahlen über Hintereingänge, Kartentausch und sonstige Tricks, die vielleicht bei einem Rolling-Stones-Konzert mit Eintritt DM 25,– angemessen sind, uns ihre Solidarität verweigert haben. Da können wir nur sagen: Scheißtypen hoch drei. Das ist Terror.“

Es sind kleine Geschichten, die diese Kleinanzeigen erzählen, eine unkommentierte Kulturgeschichte. Franz-Maria Sonner war damals mittendrin, studierte Soziologie und Germanistik, lebte in Wohngemeinschaften und diskutierte sich einen Wolf. Damit war Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre Schluss, sein Sohn kam zur Welt, die WG-Kultur funktionierte nicht mehr richtig. „Das waren ja damals keine Zweck-WGs, sondern weltanschauliche Gemeinschaften. Um zu testen, ob man ähnliche politische Auffassungen hat, wurden ja sozusagen richtige Aufnahmeprüfungen veranstaltet.“ Während in heutigen Wohngemeinschaften am liebsten Untermieter gesucht werden, „die selten zu Hause sind“, ging es damals um mehr: „Meine Gefühle gehen, wenn ich es zulasse, sehr tief und verwirren mich oft durch ihre fremde Stärke. Ich mache Primärtherapie und bin von Castaneda und tibetanischem Buddhismus beeinflusst. Um mein Leben auf einen sicheren Boden zu stellen, fange ich im Herbst eine Schreinerlehre an und möchte gerne in eine WG ziehen oder aufmachen, wo Handwerk, Musik und Erleben gleich wichtig sind. Ohne Verdrängen glücklich zu sein, ist für mich manchmal, als ob ich verbrenne.“ Damals hatte man ein Ohr für Menschen, die Probleme hatten, denn jedes Problem war auch ein gesellschaftliches, politisches Problem, für das es doch eine Lösung geben musste – auch wenn es absolut zum Weglaufen war. Und vielleicht war es ja auch wirklich für viele Menschen „ganz gut, mal darüber geredet zu haben“. Heute zahlt das (noch) die Kasse, und irgendwann hat man dann doch lieber im eigenen Apartment gewohnt.

Beim Umzug wurden die Klassiker der Theorie dann ein Fall für den Sperrmüll. Hegel, Marx, Lefèvre: „Es gab ja Leute, die haben das wirklich alles durchgearbeitet, andere haben nur so getan, Zettelchen reingelegt und hier und da etwas angestrichen … So viel Theorie wie in den 70er-Jahren ist jedenfalls nie wieder gelesen worden“, erinnert sich Sonner, der alle Bücher von damals behalten hat. „Lenin-Gesamtausgabe in 44 Lederbänden (zwei Register), absolut neuwertig und ungelesen für 300,– DM zu verkaufen“.

Irgendwann im Lauf der 70er-Jahre begann sich das Politische in den Beziehungen und im Leben auszuwaschen, in den Kleinanzeigen wurden nun verstärkt Wohnungen und PartnerInnen gesucht, das „schwarze Brett“ wurde funktionalisiert, ungefähr zeitgleich wurden die im Laufe des Jahrzehnts ausgiebig erprobten subkulturellen Techniken umgesetzt. Bioläden wurden gegründet, „die tageszeitung“ erfunden, Kooperativen installiert.

Gut gehalten hat sich der Mythos von der sexuellen Revolution: „Wir, maskulin, 18, 19, 18, finden es Scheiße, alleine Ende Juli vier Wochen nach Norddänemark, Schweden usw. zu trampen und suchen dazu weibliche Wesen, die was auf dem Kasten haben sollen, damit man außer bumsen auch noch was anderes machen kann: quatschen, Schwammerl suchen, angeln, faulenzen.“ In den 70er-Jahren war die Pille erfunden, die Syphilis unter Kontrolle und Aids noch unbekannt. Dementsprechend hoch her ist es gegangen, glaubt man Zeitzeugen – in der Praxis jedoch weniger libertinär als in der Theorie. Man probierte sich zwar sexuell aus, aber weniger in Orgien und mit Hilfe des vieldiskutierten Partnertauschs als vielmehr in der konventionellen „Zweierkiste“ – im Großen und Ganzen blieb der Umgang mit Sexualität auch in der Spontiszene eher verklemmt-kleinbürgerlich.

Auch die Homosexuellen reckten damals keineswegs allerorten ihr vermeintlich keckes Haupt: „Junger Mann, schwul, sucht netten Freund. Er sollte 20 bis 30 Jahre alt sein. Ich wohne nicht in München, so hat es keinen Zweck, mir Fragen zu stellen. Derjenige, der sich meldet, soll bitte in Ladenberg am Bahnhof auf Gleis 1 sein. Ich sitze auf der Bank mit einem Radiorekorder und einer Zeitschrift in der Hand. Du solltest einen Hut oder eine Mütze in der Hand haben, so dass ich dich besser erkenne. Zur Sicherheit fragst du mich nach der Uhrzeit, um allen Missverständnissen aus dem Wege zu gehen. Es wäre gut, wenn du ein Auto hättest, aber nicht Bedingung. Falls dir mein Zeitpunkt nicht passt, ich bin noch einmal eine Woche später an derselben Stelle. Ab 14 Uhr bin ich dort, spätestens warte ich bis 14.45 Uhr.“ Nicht gerade Gay Pride, aber zumindest schon mal ein kleiner Schritt aus dem Schrank. Emanzipiert waren damals hingegen – heute verdrängt – die Päderasten. Ihr Anliegen stieß in der Szene auf Verständnis, galt es doch, die unterdrückte Sexualität der Kinder zu befreien („Wir möchten eine größere Kommune aufmachen, die freie Kinderliebe praktizieren möchte“). Aus den Kleinanzeigen geht auch hervor, dass man in den Siebzigerjahren auch in alternativen Kreisen ganz ungeniert mit dem Pelzmantel zur Uni gingen – andere Zeiten, andere Sitten.

Für nicht eben wenige Deutsche beschränkte sich die sexuelle Revolution der Siebzigerjahre auf den regelmäßigen Konsum der „Schulmädchenreport“-Filme im Kino – die Spontis hingegen haben sich immerhin redlich bemüht, die elterlichen Schlafzimmer mit ihren Schleiflackkommoden durchzulüften: Sie haben Standards gesetzt, denn über Sexualität darf heute ganz selbstverständlich gesprochen werden.

In der Spontiszene war (noch) gar nichts klar: „Zimmer frei in WG, schöner Altbau, Mansarde, große Räume, 150,– DM nackig, bisschen schlampiges Bad (stinkt mir sowieso), an jemanden, der wenigstens zeitweise weiß, was er will. Komm bitte abends vorbei, vielleicht.“ Es war eine Zeit des Ausprobierens. Kurz zuvor hatte man sich an der Universität unter Kommilitionen noch gesiezt, nun war man auf der kollektiven Suche nach dem Strand unter dem Pflaster. Man schrieb Gedichte, versuchte seine Persönlichkeit zu ergründen und ihr Ausdruck zu verleihen: Kreativität und Selbstverwirklichung lauteten die Schlagworte der sich randständig wähnenden, akademisierten Subkultur. Das ist heute längst Mainstream: Ob gewollt oder nicht, die Spontis der 70er-Jahre haben auch den Weg zu einer individualisierten Gesellschaft geebnet, in der nun eben jeder seinen Stiefel durchzieht. Selbstverwirklichung wurde längst zum Wert an sich.

Die jugendkulturellen Ausdrucksformen der Siebzigerjahre haben sich im Wesentlichen bis zum Ende der 80er-Jahre gehalten. Das Kiffen übrigens ist trotz jahrelanger grüner Regierungsbeteiligung immer noch nicht legalisiert – und in der taz gilt ab dem 1. März ein großflächiges Rauchverbot. Das hätte einem ja damals keiner geglaubt, dass das hier mal so total gesundheitsfaschistisch und autoritär-menschenverachtend zugehen würde. Irgendwie.

„Werktätiger sucht üppige Partnerin“ wird erstmals am 4. März um 20 Uhr im Funky Kitchen, Saal 60, Blumenstraße 28 in München präsentiert. Weitere Veranstaltungen in Frankfurt, Hamburg und Berlin sind in Planung.MARTIN REICHERT, 32, ist Autor für taz.mag und taz zwei und hat die Liebe in den Zeiten der Ära Helmut Kohl gelernt. Seitdem leidet er unter Gefühlsstau und raucht wie ein Schlot