„Auch Gothics leben in einer Parallelgesellschaft“

Der Kölner Autor und Psychologe Mark Terkessidis stellt dem Klischee von Einwanderern in abgeschotteten Räumen das Konzept der Heterotopien gegenüber: Jeder hat ein Recht auf Rückzug in die eigene Gruppe – und auch darauf, nicht ständig von der Mehrheitsgesellschaft behelligt zu werden

INTERVIEW SUSANNE GANNOTT

taz: Herr Terkessidis, Ihre derzeit laufende Veranstaltungsreihe über die Einwanderungsgesellschaft heißt „Heterotopien“. Was bedeutet das?

Mark Terkessidis: In Deutschland wird man beim Thema Einwanderungsgesellschaft permanent mit Pessimismus konfrontiert. Dabei gibt es auf der Alltagsebene alle möglichen Räume, in denen die Einwanderungsgesellschaft funktioniert oder sich zumindest Normalität eingestellt hat. Die nenne ich Heterotopien.

Was sind das konkret für Räume?

Nehmen wir zum Beispiel die türkischen Diskotheken und Clubs auf dem Kölner Ring. Von außen sehen die aus wie Räume, in denen nur türkische – oder, wie im Palladium am Friesenplatz, griechische – Musik gespielt wird und die total ethnisch kodiert sind. Wenn man aber da rein geht, stellt man fest, dass die Musik, die da gespielt wird, lokale Spielart eines globalen Pop ist. Genauso wie Kunst aus New York importiert wird oder Design aus Posemuckel. Es wird nicht gesehen, was innerhalb dieser Räume passiert, sondern nur, dass es sich hier um angebliche, wie Rita Süssmuth einmal sagte, „ethnisch abgeschlossene“ Diskotheken handelt.

Ist das unsere rassistische Wahrnehmung, dass wir diese Räume nur unter ethnischen Gesichtspunkten ansehen?

Im Grunde schon. Das Jahrestreffen von Punks oder Gothics ist für Nicht-Eingeweihte auch eine Parallelgesellschaft. Da wird aber gesagt, es geht um Stil, also um Symbolisierung. Genau das wird diesen türkischen Orten abgesprochen. Das ist tatsächlich eine Wahrnehmung, die man rassistisch nennen kann.

Aber sind Heterotopien wirklich nur positiv? Es gibt doch auch „negative Räume“ – zum Beispiel, wenn sich irgendwelche Islamisten in Hinterzimmer-Moscheen treffen.

Die Vorstellung von sich zusammen rottenden Islamisten in Hinterzimmern ist ein wahnsinniges Klischee. Erstens hat man dadurch, dass man den Islam nicht als Religion anerkennt, die Leute förmlich in die Hinterzimmer gedrängt. Dazu kommt, dass sich als islamistisch bezeichnete Organisationen wie die „Milli Görüs“ – bei allen Problemen, die sie mit sich bringen – inzwischen durchaus als zivilgesellschaftliche Akteure in das politische Spiel einbringen. Dadurch verändern sie sich natürlich.

Wie kann man diesen Begriff der Heterotopien politisch nutzen? Welche Forderungen leiten sich daraus ab?

Zunächst eröffnet der Begriff eine veränderte Perspektive. Man guckt eben nicht, was in der Einwanderungsgesellschaft alles nicht gut läuft – sondern wie und wo sie funktioniert. Deswegen habe ich auch Erol Yildiz eingeladen. Mit Wolf-Dietrich Bukow und anderen hat er eine Untersuchung zur „Multikulturellen Stadt“ gemacht. Sie haben sich Köln-Ehrenfeld angeschaut und sind einmal nicht davon ausgegangen, dass Heterogenität böse ist. Dabei haben sie festgestellt, dass das Zusammenleben ganz gut funktioniert, auch wenn die Leute teilweise nicht viel miteinander zu tun haben. Mein Gott, Köln ist eine Großstadt! Ich habe nicht einmal mit meinen Nachbarn etwas zu tun! Daraus lässt sich die Forderung ableiten: Lasst die Leute einfach mal in Ruhe! Migranten werden permanent belästigt, indem man irgendwelche Forderungen an sie stellt.

Was für Forderungen?

Nehmen wir die Bildungspolitik. Man hat festgestellt, dass Migranten nicht gut genug Deutsch sprechen und das deutsche Ergebnis in der Pisa-Studie ruiniert haben. Das stimmt zwar so nicht, aber nehmen wir mal an, es sei so. Jetzt kann ich hingehen und die Eltern beschuldigen, sie hätten ihren Kindern kein Deutsch beigebracht. Das ist so sinnlos wie ein Kropf. Im Grunde ist das eine Belästigung dieser Leute. Es ist an der Schule, sich auf ihre Schüler einzustellen. In anderen Ländern hat man das längst getan. In Kanada wird Englisch als Zweitsprache fünf bis sieben Jahre lang ganz normal in den Unterricht integriert. Weil man davon ausgeht, dass es nicht mehr das 50er-Jahre-Normkind gibt, sondern eine heterogene Gruppe von Schülern.

Aber dann geht es ja nicht ums „In-Ruhe-lassen“, sondern eher um eine aktivere und bessere Förderung.

Das wäre eine weitere Forderung. Aber um diese zu gestalten, müsste man sich die Praxis der Einwanderungsgesellschaft genauer ansehen. Aus dieser Bestandsaufnahme müsste man Vorschläge ableiten, wie Dinge, die ganz gut laufen, weiter entwickelt werden können. Man könnte auch überlegen, ob man nicht – sozusagen quer zur permanenten Forderung nach Integration – viel mehr Räume schaffen müsste, in denen Einwanderer sich artikulieren können. Das wären genau solche Räume, die bisher immer unter dem Negativbegriff Parallelgesellschaft eingeordnet werden.

Was hieße das für Köln – muss zum Beispiel endlich eine gescheite Moschee her?

Über konkrete Forderungen müsste man diskutieren. Unsere Veranstaltungsreihe ist da sicher erst der Anfang. Und was die Moschee angeht: In der ständigen Debatte wird das Thema zu sehr zugespitzt auf Leute türkischer Herkunft. Die gelten in dieser Republik sozusagen als „Ausländer per se“ – und der Islam ist die „Religion per se“. Dabei gibt es sehr viele Migranten griechischer, ex-jugoslawischer, italienischer und inzwischen auch immer mehr russischer und osteuropäischer Herkunft. Sie alle tauchen in der Diskussion nie auf. Es geht immer nur um Türken. Und mit dem Bau einer Moschee ist es schon deshalb schlicht und ergreifend nicht getan.