„Ukrainer brauchen Reisefreiheit“ sagt Kerstin Zimmer

Präsident Juschtschenko meint es ernst mit der Demokratie in der Ukraine. Vordringlich sind Wirtschaftsreformen

Heute redet Wiktor Juschtschenko im Bundestag – ist das eine richtige Geste des deutschen Parlaments?

Ja, denn das hat eine symbolische Bedeutung. Problematisch ist nur, wenn es bei reiner Symbolik bleibt und keine konkreten politischen Angebote an die Ukraine erfolgen.

Russlands Präsident Putin hat auch schon im Bundestag gesprochen. Das mutet ob seiner gelenkten Demokratie von heute fast zynisch an. Könnte den Abgeordneten mit Juschtschenko dasselbe passieren?

Das vermute ich bei Juschtschenko nicht, ihm ist es mit der Demokratisierung ernst. Allerdings wird er es nicht leicht haben, denn Teile der alten Elite haben noch Einfluss und haben sich jetzt nur ein orangenes Mäntelchen umgehängt. Das könnte der neuen Regierung noch größere Probleme bereiten.

Steht denn die neue Mannschaft unter Ministerpräsidentin Timoschenko für einen echten Neuanfang?

Bislang sieht es danach aus. Timoschenko hat Kutschma einige Privilegien gestrichen, und im ukrainischen Parlament wird ein Gesetz eingebracht, das die alten Machthaber für einige Zeit von Regierungsämtern fernhalten soll. Auf zahlreiche materielle Vorteile, die sich die alte Regierung selbst genehmigt hatte, verzichtet die neue Mannschaft.

Hat sie denn überhaupt reale Möglichkeiten, Reformen durchzusetzen, oder ist die alte, korrupte Elite noch zu mächtig?

Sie verfügt noch immer über große wirtschaftliche Macht. Zwar will die Regierung, vor allem Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, die Privatisierungen der großen Staatsbetriebe überprüfen, an denen sich Oligarchen wie etwa Kutschmas Schwiegersohn Wiktor Pintschuk bereichert haben. Aber da wird sie wohl nur an ein, zwei Fällen ein Exempel statuieren können. Es ist im Gespräch, dass sie etwas an den Staat nachzahlen müssen. Eine wirkliche Abrechnung mit der korrupten Wirtschaftselite wird es nicht geben.

Wäre diese Abrechnung nicht wichtig für das Selbstverständnis der neuen Regierung?

Schon, aber eine vollständige Überprüfung der Privatisierungen ist praktisch nicht durchführbar. Eine lückenlose Aufklärung wäre viel zu aufwändig und würde das Wirtschaftsklima ruinieren. Das kann Juschtschenko gar nicht brauchen.

Zumindest den Mord am regimekritischen Journalisten Georgi Gongadse scheint man nun aufklären zu können. Ist das nur ein Ablenkungsmanöver davon, dass die Eliten doch ungeschoren davonkommen?

Nein, der Bevölkerung ist es wichtig, dass dieser Skandal aufgeklärt wird. Und wenn mit Kutschma, der mit dem Mord in Verbindung gebracht wird, wirklich vor Gericht käme, wäre das wie ein Erdbeben. Das würde weit über die Ukraine in den postsowjetischen Raum hinausweisen – wenn ein ehemaliger Machthaber verurteilt würde. Allerdings werden sie sich wohl nicht an Kutschma herantrauen.

Die Erwartungen der Ukrainer an Juschtschenko sind riesig. Wann wird die große Depression über eine ausbleibende Besserung der Lebensverhältnisse einsetzen?

Das hängt von seinem Reformtempo ab. Er muss sich auf die Wirtschaftspolitik konzentrieren. Die Regierung muss vor allem die Korruption eindämmen, sie betrifft das Alltagsleben der Menschen, die für alles und jedes Bestechungsgelder zahlen müssen. Wichtig ist auch die soziale Sicherheit, vor allem für die Bevölkerung im Osten, die der neuen Regierung gegenüber skeptisch ist. Sie ist dem sowjetischen Versorgungsdenken verhaftet und trauert den Wahlgeschenken der alten Regierung nach.

Wie kann die Bundesregierung den Reformprozess in der Ukraine unterstützen?

Ein sehr gutes Instrument ist die deutsche Beratergruppe in Kiew, in der Wirtschaftswissenschaftler der Regierung zur Verfügung stehen. Sie ist im letzten Jahr aus Haushaltsgründen stark dezimiert worden, sie müsste man wieder aufstocken. Außerdem muss es – trotz der unsäglichen Fischer-Affäre – Visaerleichterungen geben. Wir dürfen den Ukrainern nicht das Gefühl geben, trotz allem, was sie erreicht haben, würden in Europa die Schotten für sie geschlossen.

Die Aktionspläne im Rahmen der EU-Nachbarschaftspolitik enthalten auch Reiseerleichterungen. Reicht das?

Nur, wenn die Aktionspläne auch schnell umgesetzt werden. Juschtschenko hat in Straßburg geredet, in Brüssel, heute in Berlin. Das ist gut und schön, darf aber nicht alles sein. Wichtig sind die Themen Handel und Reisen. Die EU könnte die Ukraine etwa bei ihrem WTO-Beitritt unterstützen.

Juschtschenko will mehr, nämlich die EU-Mitgliedschaft. Ist seine Forderung klug?

Ein EU-Beitritt der Ukraine ist mittelfristig illusorisch, das weiß auch Juschtschenko. Es wären viel zu große Reformanstrengungen nötig. Es hat wirklich wenig Sinn, ständig darüber zu reden.

Während der orangenen Revolution gab es in Deutschland eine große Begeisterung für die Ukraine. Von der scheint derzeit wenig übrig. Wieso ist sie so schnell verraucht?

Die Visa-Affäre wird in Deutschland als innenpolitisches Problem betrachtet und nicht so sehr als etwas, was mit der orangenen Revolution zu tun haben könnte. Das ist aber falsch – unter ihren Trägern waren viele junge Leute, die ins Ausland wollten, oder solche, die schon mal dort waren. Sie haben erfahren, was ein demokratisches Regime bedeutet, und haben das zurückgetragen. Die Möglichkeit, die Ukraine zu verlassen und zurückzukehren, müssen wir unbedingt vergrößern. INTERVIEW:

HEIKE HOLDINGHAUSEN