Der Abzug ist gut. Aber was wird aus uns?

Eine syrisch-libanesische Familie zwischen Angst und Hoffnung: Die Mutter fürchtet einen neuen Bürgerkrieg, der Sohn setzt auf die Zukunft

BEIRUT taz ■ Tag für Tag und Nacht für Nacht bewegen sich die klapprigen alten syrischen Militärlaster aus allen Teilen des Libanon in Richtung syrische Grenze. Drei Jahrzehnte syrischer Militärpräsenz neigen sich dem Ende zu. Doch der Syrer Sameh Khalaf bleibt. Er ist einer von tausenden Syrern und Syrerinnen, die mit libanesischen Partnern verheiratet sind und sich im Libanon niedergelassen haben.

Die letzten drei Wochen haben die Familie ernsthaft verunsichert. Zusammen mit seiner libanesischen Frau Suriana und ihren vier Kindern sitzt Sameh allabendlich vor dem Fernseher in seiner bescheidenen Wohnung in Nameeh im Süden Beiruts und versucht zu begreifen, was um sie herum eigentlich geschieht. Ihre private eheliche Verbindung wird gerade in großem Stil politisch geschieden.

„Die letzten Wochen waren der Horror“, beschreibt der älteste Sohn Majed die Situation. Wie alle seine Geschwister hat der 23-Jährige nur einen syrischen Pass. Im Libanon gilt das gleiche Staatsangehörigkeitsrecht wie in den meisten anderen arabischen Ländern: Die Kinder erhalten lediglich die Nationalität des Vaters. Auch wenn die Khalaf-Kinder im Libanon geboren sind und sie eine libanesische Mutter haben, gelten sie als Syrer.

Viele seiner syrischen Kommilitonen seien in den letzten Wochen nicht mehr zum Unterricht erschienen, erzählt Majed, der an der Amerikanischen Universität Beirut Computerwissenschaften studiert. Manche Familien seien sogar nach Syrien zurückgekehrt, als es nach der Ermordung des ehemaligen Premiers Rafik Hariri an einigen Orten zu einer regelrechten Jagd auf syrische Arbeiter gekommen war, weil viele Libanesen den syrischen Geheimdienst für die Ermordung verantwortlich gemacht hatten. „Die Leute unterscheiden mitunter nicht zwischen dem syrischen Regime und den hunderttausenden Syrern, die hier leben“, sagt Majed: „Wir Syrer werden hier für alles verantwortlich gemacht, sei es die Ermordung Hariris, die Arbeitslosigkeit oder die Staatsschulden, alles Übel kommt für viele Libanesen aus Damaskus.“

Suriana hat ihren syrischen Mann vor 24 Jahren an der Universität kennen gelernt und geheiratet. „Ich finde im ganzen Libanon keinen Besseren“, hatte sie damals ihren Eltern trotzig auf deren Einwände gegen die Heirat mit einem Nichtlibanesen geantwortet. Die 48-Jährige hat jetzt Angst, dass irgendwelche libanesischen Parteien wie einst zu Zeiten des Bürgerkrieges Straßensperren aufbauen und ihre Familie nach ihren Ausweisen fragen könnten. Sie deutet von ihrem Balkon aus auf den Ort, an dem die Milizen des Drusenführers Jumblatt während des Bürgerkrieges zwischen 1975 und 1990 Kontrollpunkte aufgebaut hatten. Sie erinnert sich, als sei es gestern gewesen, erklärt sie. „Ich habe versucht, für die kleineren Kinder wenigstens noch libanesische Schulausweise zu besorgen, auf denen keine Nationalität eingetragen ist, aber die Schulverwaltungen haben mir erklärt, dass das nicht möglich sei“, berichtet sie.

Majed winkt ab: „Meine Mutter macht sich zu große Sorgen. Das Ganze ist nur eine erste emotionale Reaktion auf die Ermordung Hariris“, meint er. Er kann seine Mutter aber verstehen. Sie hat im Bürgerkrieg einen Bruder und einen Onkel verloren, ihr Haus wurde vollkommen zerstört. Vier weitere Male musste sie während des 15 Jahre dauernden Bürgerkrieges aus Sicherheitsgründen umziehen. „Ich mache mir Sorgen, dass es mit dem Rückzug der Syrer erneut losgehen könnte“, fürchtet die Mutter und fügt hinzu: „Ich würde sofort unsere Sachen packen.“ Majed ist optimistischer: „Die Libanesen haben aus ihrer Bürgerkriegserfahrung gelernt, so etwas nicht noch einmal anzufangen.“

Seine Mutter hat jedenfalls die Familienorder herausgegeben, dass sich keiner an irgendwelchen Demos beteiligen darf. „Weder für noch gegen die Syrer“, sagt sie streng, während sie auf dem Sofa im Wohnzimmer in die Runde blickt. Ihre Tochter Maria, die nach ihrer österreichischen Urgroßmutter benannt ist, wollte trotz ihrer syrischen Nationalität an den Demonstrationen gegen die syrischen Truppen am Platz der Märtyrer teilnehmen. „Alle meine Freunde waren da und haben erzählt, dass dort eine super Partystimmung herrscht, aber meine Mutter hat es mir verboten“, schildert die 19-Jährige und lächelt verlegen unter ihrem Kopftuch hervor. Ihre Mutter gibt zu, dass sie eher auf die Hisbollah-Demonstration letzte Woche gegangen wäre. „Nach all den Kundgebungen der Opposition und der antisyrischen Hetze hatte ich das erste Mal das Gefühl, atmen zu können“, beschreibt sie ihren Gemütszustand. Aber sie blieb ihrem Prinzip, sich aus allem herauszuhalten, treu.

In einem Punkt ist sich die Familie einig. Den Abzug der syrischen Armee und des syrischen Geheimdienstes sehen sie alle durchweg als positiv. „Das ist zu unser aller Vorteil, man kann den Libanesen nicht etwas aufzwingen“, meint der Vater. Er betont, dass seine Familie nie irgendeinen Vorteil aus der syrischen Präsenz im Libanon gezogen hat: „Wir haben uns stets vom Regime fern gehalten.“ Majed, ein glühender junger arabischer Nationalist, fügt noch ein anderes Argument hinzu. „Es hieß immer, die Syrer seien zum Schutz gegen Israel im Libanon. Doch die syrische Präsenz hat Israel nie davon abgehalten, den Libanon zu bombardieren oder sogar 1982 dort einzumarschieren. Die Anwesenheit der syrischen Armee ist heute vollkommen nutzlos.“

„Wenn die syrische Armee weg ist, dann gibt es keinen Grund mehr, dass wir hier im Libanon als Syrer beschimpft werden“, hofft die Mutter. Ihr Sohn Majed wünscht sich dann, endlich wie alle anderen Araber im Libanon behandelt zu werden. Und er fügt hinzu: „Irgendwann werden die Libanesen auch verstehen, dass viele ihrer Probleme nicht von den Syrern stammen, sondern hausgemacht sind.“

KARIM EL-GAWHARY