Mord ohne Sühne

Der Genozid an den Armeniern wird von den Türken verneint. Das liegt an einer nachvollziehbar anderen Geschichtsschreibung und an fehlendem Selbstbewusstsein

Die Morde und Vertreibungen dienten der Abwehr einer armenischen AggressionDie Türken fühlen sich nicht sicher genug, um zuzugeben, dass ein Völkermord stattgefunden hat

Kürzlich stellte ein bekannter türkischer Kolumnist nach einer Rundreise durch diverse europäische Hauptstädte mehr oder weniger resigniert fest: Die Auseinandersetzung um die Ermordung hunderttausender Armenier in den Jahren von 1915 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges ist für die Türkei längst verloren. Weltweit seien sich die Historiker einig, dass sich das damalige Osmanische Reich eines Völkermordes schuldig gemacht habe. Auch wenn türkische Historiker und eine Minderheit in der internationalen Zunft dies nicht so sehen, sollte man doch die Realitäten anerkennen. Er empfahl seiner Regierung deshalb, ein Schuldbekenntnis abzulegen und den Streit um die Zahl der Opfer und die Motive der Täter nicht weiter fortzusetzen.

Davon ist die türkische Regierung noch weit entfernt. Die überwiegende Mehrheit der türkischen Bevölkerung, einschließlich der wissenschaftlichen und politischen Eliten, bestreitet, dass die Armenier Opfer eines Völkermordes wurden. Im Gegenteil: Die damaligen Morde, die Vertreibungen und die Deportationen in die irakische Wüste dienten der berechtigten Abwehr einer armenischen Aggression. Warum ist das so?

Vor allem wegen der unterschiedlichen Geschichtsschreibung über den Untergang des Osmanischen Reiches. Der begann, als die Balkanvölker, allen voran die Griechen, sich als Nation entdeckten. Unter den Osmanen spielten ethnische Prägungen kaum eine Rolle. Macht und Einfluss definierten sich nach der Nähe zum Sultan. Griechen und Armenier spielten herausragende Rollen am Osmanischen Hof. Schon der griechische Unabhängigkeitskampf in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts wurde in Istanbul als Verrat empfunden. Das setzte sich fort mit den Unabhängigkeitskriegen der Serben, Rumänen und Bulgaren. In all diesen Auseinandersetzungen unterstützten England, Frankreich und Russland die nach Unabhängigkeit strebenden Völker des Balkans. Nicht zuletzt deshalb, weil sie die neu entstehenden Staaten dann in ihre Einflusssphäre bringen konnten.

Aus Sicht der Osmanen war diese Unterstützung nichts anderes, als ein Mittel, ihr Imperium zu zerschlagen. Während die alte osmanische Elite diesem Prozess hilflos zusah, entwickelte sich in den verbliebenen europäischen Provinzen – das Zentrum war Saloniki – sehr spät dann doch eine eigene türkische nationalistische Bewegung (die Jungtürken), deren Ziel es war, die Monarchie zu stürzen und eine türkische Republik an die Stelle des multiethnischen Osmanischen Reiches zu setzen. Diese Bewegung arbeitete anfangs noch mit der armenischen nationalen Bewegung gegen das herrschende osmanische Establishment zusammen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es deshalb eine türkische und eine armenische Nationalbewegung. Beide wollten einen eigenen Staat auf ethnischer Basis. Die Araber kamen erst später unter tätiger Mithilfe der Briten (Lawrence von Arabien) dazu.

In den Aufstand der Jungtürken, die den Sultan Schritt für Schritt entmachtet hatten, fiel der Beginn des Ersten Weltkrieges. Zwar regierte de facto ein jungtürkisches Triumvirat. Die Institutionen des Reiches aber waren noch nicht auf eine neue, gesicherte Basis gestellt. Weder war der Sultan fortgejagt, noch gab es eine allseits anerkannte neue konstitutionelle Monarchie.

Für die armenische Unabhängigkeitsbewegung schien die unsichere Situation in der Hauptstadt bei Ausbruch des Krieges eine goldene Gelegenheit, ihren Traum von einem eigenen Staat durchzusetzen. Mit Unterstützung der russischen Kriegsgegner inszenierten sie einen Aufstand in Van, den die Jungtürken dann zum Vorwand nahmen, gegen die Armenier vorzugehen.

Aus Sicht der türkischen Nationalisten stellte sich die Armenierfrage so dar: Die armenischen Nationalisten verbündeten sich mit dem Kriegsgegner Russland zu einer fünften Kolonne. Die Unterstützung der Christen im Osmanischen Reich durch andere europäische Mächte hatte sich in der Vergangenheit immer als Mittel zum Zweck der Zerschlagung des Reiches herausgestellt. Das hatte zu einer heftigen antichristlichen Stimmung geführt, die genährt wurde von hunderttausenden Muslimen, die nach den nationalen Befreiungskriegen aus dem Balkan vertrieben wurden und nach Anatolien geflüchtet waren. Das sollte sich mit der russisch-armenischen Allianz nicht wiederholen.

Unter Teilen der Jungtürken kam noch ein Motiv hinzu. Da das neue Reich auf ethnischer Basis entstehen sollte, mussten sie sich mit den Turkvölkern Zentralasiens zusammenschließen. Ein neu gegründeter armenischer Staat hätte aber wie eine Barriere zwischen Anatolien auf der einen und Aserbaidschan und Turkmenistan auf der anderen Seite gelegen. Deshalb die Vertreibung der gesamten armenischen Bevölkerung in die Mesopotamische Wüste, deshalb der tödliche Hass auf die Christen als fünfte Kolonne.

Der türkische Unabhängigkeitskrieg gegen die alliierten Besatzungsmächte, an denen Armenier und vor allem Griechen auf der Seite der Sieger teilnahmen, hat die türkischen Nationalisten in ihrer Auffassung bestätigt, dass schon die Vertreibung und Ermordung der Armenier in den Jahren zuvor kein Völkermord, sondern ein legitimer Abwehrkampf gegen die Vernichtung der türkischen Nation war. Die Türken sind, darin den Deutschen nicht ganz unähnlich, eine verspätete Nation. Ihnen fehlt die Gelassenheit anderer, älterer Nationen. Sie fühlen sich nicht sicher genug, um zugeben zu können, dass im Zuge ihrer Nationalstaatsentwicklung ein Völkermord stattgefunden haben könnte. Dass Armenien, insbesondere aber die armenische Diaspora, mit einem Schuldeingeständnis gleichzeitig auch territoriale Forderungen verbindet, verstärkt die türkische Phobie, äußere Mächte könnten die Armenier zur Aufteilung und Zerschlagung ihrer Landes benutzen, wie dies in der Endphase des Osmanischen Reiches geschah.

Für die aktuelle Debatte mit der Türkei gibt es deshalb zwei Möglichkeiten. Man kann sie einmal mit dem Ziel führen, zu zeigen, dass die Türkei keinesfalls ein Land der EU werden kann. Dazu fordert man die Anerkennung eines muslimischen Völkermordes an einer christlichen Nation und verbindet das mit Verständnis für aktuelle armenische Forderungen. Wenn man dann noch die vermeintlich bedrohliche Lage der Christen in der heutigen Türkei mit hinzunimmt, hat man eine perfekte Plattform, mit deren Hilfe die Türkei fast automatisch aus der EU auszuschließen ist.

Die andere Möglichkeit ist, die Debatte mit dem Ziel der Modernisierung des Nationalstaatsbegriffes zu führen. Wenn die Türkei begreift, dass der Nationalstaatsbegriff des 19. Jahrhunderts nicht mehr kompatibel ist mit einem Staat als Teil eines supranationalen Gebildes, dann wird es auch leichter fallen, die historischen Fehler des alten Nationalstaates einzugestehen. Das kann aber nur als Teil des Annäherungsprozesses passieren und als seine Voraussetzung. JÜRGEN GOTTSCHLICH