Knackarsch


VON TANJA DÜCKERS

Inge und Birte Hanneling saßen nebeneinander und sprachen, wie immer, kein Wort miteinander. Sie blätterten in verschiedenen Magazinen der Bundesanstalt für Arbeit. Inge hatte das Heft Chemie Glas Keramik auf dem Schoß und las „Bleiben Sie am Ball – mit einer Weiterbildung zu diesen Themen: Siebdruck / Plastisches Gestalten / Steine und Erden, Technische Keramik“. Schönes Porzellan war ja nicht verkehrt, aber den Kram selber machen? Das war bestimmt auch eine dieser Aufgaben, die man immer heillos unterschätzte. Birte dachte an den Job in der Papierfabrik auf dem Festland – ihr letzter Job, bevor sie zu ihrer Mutter nach Sylt zurückgegangen war. Die Insel, diesem, wie ihr auf dem Festland schien, paradiesischen Ort mit lauter netten, gepflegten Menschen und einer sehr geringen Kriminalitätsrate. Zu dieser Ansicht war sie aber erst nach Hamburg und nach Uwe gekommen.

Nein, Herstellung kam nicht in Frage. Wenn schon, dann lieber Verkauf. Birte betrachtete eine Seite mit bunt aufeinander gestapelten Schalen. So etwas täglich in den Händen zu halten, wär doch bestimmt nicht ganz verkehrt. Hatte es nicht gestern in diesem Wellness-Artikel geheißen, man solle sich täglich mit „schönen Dingen“ umgeben? Auf Sylt gab es viele hübsche kleine Keramikgeschäfte, wo man sicher ein angenehmes Dasein fristen konnte. In Arsum, Morsum und Keitum würde sie schon gerne etwas finden (es musste ja nicht gleich Kampen sein), und außer Gastronomie, Textil- und Schmuckdesign kam da kaum etwas anderes in Frage.

Ihre Mutter saß neben ihr und las Textil Bekleidung Leder. Ihre Mutter mit ihrer Ledermacke. Sie nähte aus verschiedenen Lederresten, die sie umsonst auf dem Festland bekam, Taschen und Westen zusammen, die sie per Internet oder als Kommissionsware auf der Friedrichstraße anbot. Zu Hause ratterte immer die Nähmaschine. Schönes Geräusch!

Ihre Mutter las gar nicht, bemerkte Birte jetzt, sie guckte sich junge Lederhersteller in einer Werkstatt an, einen nach dem anderen. Birte starrte ihre Mutter an, wollte, dass es ihr peinlich ist, so beim Typen-Angucken beobachtet zu werden. Aber ihrer Mutter war nichts peinlich. Als jetzt ein Mann in der Tür erschien, um den Nächsten in sein Zimmer zu bitten, musterte sie ihn neugierig von Kopf bis – Arsch. Arsch, das sagte ihre Muter immer. Knackarsch. Besonders, wenn der in einer Lederhose steckte.

Auch noch diese Situation – mannlos zu sein – teilte sie mit ihrer Mutter.

Das tut mir aber Leid, dass ihr jetzt beide arbeitslos geworden seid, hatte Anke letztens in der „Sansibar“ gesagt und sich dann aber gleich weggedreht. So war es immer, wenn sie mit Inge irgendwo hinging.

Birte schloss die Augen. Sie konnte den Anblick ihrer Mutter nicht mehr ertragen. Ihr Atmen, diese Art, hemmungslos herumzuschnauben und -zuschnaufen, sie ließ sich immer so gehen … die gehörte eigentlich aufs Festland …

Birte dachte an die winzige Eigentumswohnung in Westerland in einem 50er-Jahre-Neubau. Westerland ist keine schöne Stadt. Kein Vergleich zu Kampen oder Keitum. Dafür weitgehend touristenfrei.

Jetzt stand ihre Mutter auf und stampfte durch den Raum. Natürlich – Birte hatte es schon kommen sehen – rammte sie den Tisch mit den beiden PCs. Zwei, drei ebenfalls wartende Männer blickten auf – jedoch nicht, wie ihre Mutter sich sicher einbildete – mit interessiertem Blick, sondern vielmehr aufgeschreckt durch ihre polternde Art. Ihre Mutter ging zum Regal mit den Heften, nahm eines, blätterte laut raschelnd darin herum, schob es geräuschvoll zurück in das Fach, wobei sie sich dabei so doof anstellte, dass die Heftseiten unten zerknüllten. Dann riss sie noch zwei, drei andere Hefte aus den Fächern, blätterte hektisch darin herum (einer der Männer seufzte auf) und stopfte sie dann wieder zurück. Keines der Hefte, das ihre Mutter angefasst hatte, sah nachher so aus, dass ein anderer Besucher Lust gehabt hätte, da noch hineinzuschauen. Jetzt hatte sich ihre Mutter tatsächlich für eines entschieden und stampfte – nicht ohne sich mit dem Magazin theatralisch Luft zuzufächern – zurück.

Mit einem lauten „Haaaach“ ließ sie sich auf den Stuhl plumpsen. Erneut begann das geräuschvolle Blättern. Birte blickte kurz auf den Titel: Chemie Glas Keramik.

Das war ja eine tolle Idee. Die nächste halbe Stunde konnte Birte zusehen, wie ihre Mutter an mehr oder weniger den gleichen Stellen Kringel machte wie sie.

Jetzt ging die Tür auf. Ein für diese Art von Beruf erstaunlich sympathisch aussehender, freundlich lächelnder Mittfünfziger in einer Lederweste – nein, das durfte nicht wahr sein – in einer Lederweste, die eindeutig von ihrer Mutter stammte – stand in der Tür.

„Inge und Birte Hanneling.“

Wieso rief er sie nicht einzeln auf?

Birte überlegte einen Moment. Sie war zweiundzwanzig Jahre jünger als ihre Mutter – aber ihre Mutter hatte viele Jahre in einem Keramikladen in Keitum gearbeitet. Bevor sie mit diesem Leder-Knackarsch namens Heiko zusammengekommen war.