Verschleppte Emanzipation

Quer durch Europa zieht sich die Spur von neuen Opern, die nach einer Aktualisierung der Gattung suchen. Die Figuren starker Frauen sind dabei noch immer die besten Helfer. Doch oft kommt die Suche nach Modernität nicht über das Bühnenbild hinaus

VON FRIEDER REININGHAUS

Die Oper bäumt sich wieder einmal gegen ihr Altern auf: Mehr als ein halbes Dutzend Opern-Uraufführungen in den letzten Tagen unterstrichen quer durch Europa den Anspruch, dass Oper auf unterschiedlichste Weise „aktuell“ sein will. Ohne Liebesgeschichte geht es fast nie ab.

Was zählt auf dem Feld der Liebe? In „Love counts“ führt eine Mathematikdozentin einen Mittelgewichtler ins Reich der Zahlen ein. Er kann nicht bis 50 zählen, weil ihm das Hirn aus dem Schädel geprügelt wurde. Sie rechnet mit diesem Mann ab, weil sie von einem anderen um der Liebe willen geschlagen wurde. So will es der Plot von Michael Hastings für Michael Nymans neue Musiktheater-Produktion am Staatstheater Karlsruhe.

Liebe und Schläge

Die Stationen der weiblich dominierten Beziehung hat der Bühnenbildner Peter Werner anschaulich ausgestattet: Die zwei singenden Akteure kommen auf einer Parkbank ins Gespräch, und eine Gipsfigur ist als regungsloser Zaungast dabei. Eine stumme Beobachterin steht wartend am Geldautomaten, und auch der Mann, der als Über-Ich am Kopfende des Bettes wartet, in dem sich die klassischen Schwierigkeiten moderner Männer und Frauen auftun, ist ein steinerner Gast. Der deklassierte Boxer soll domestiziert und aus dem für ihn mörderischen Milieu geholt werden. Man ahnt, dass diese Versuchsanordnung scheitern muss. Beverly O’Regan Thiele und Ulrich Schneider stellen das ungleiche Paar stimmlich höchst kompetent vor.

Mit seiner strukturellen Komponente greift „Love counts“ auf einen Film zurück, für den Nyman die Musik schrieb – Peter Greenaways „Drowning by Numbers“ („Die Verschwörung der Frauen“). Auch das psychoanalytische Interesse, das seine frühe Kammeroper „The Man Who Mistook His Wife for a Hat“ anregte, kommt wieder zum Zuge. Nicht zu übersehen ist nun freilich die soziale Komponente des neuen Werks.

Nyman zeigt Gespür für Themen, die in der Luft liegen, und bedient sie allemal mit illustrierenden Filmmusik: Millionen kleiner Impulse konstituieren in barocker Manier „Affekte“. Während die Dramaturgie aus der Banalität ausbricht, verweigert Nyman der Musik die entwickelteren Mittel, die im 19. und 20. Jahrhundert erwuchsen. Darin liegt die polemische Schlagkraft der schönen Melodien und der aneinander gereihten Nummern, die immer wieder an „Pachelbels Canon“, die Popversion einer alten Passacaglia, erinnern.

Arena der Macht

Auf den ersten Blick hat das blutrünstige Drama „Richard III.“ mit der Gegenwart nichts zu schaffen. Der Komponist Georgi Battistelli (* 1953) wurde international bekannt durch relativ gegenwartsnahe Stücke wie die „Orchesterprobe“ (nach Fellini), „Die Entdeckung der Langsamkeit“ (nach Sten Nadolny) und einen funkelnden „Herbst des Patriarchen“ nach Márquez. Zuletzt aber versah er Richard Burtons umsichtige Shakespeare-Bearbeitung mit Musik.

Mehrfach eskaliert der Ton zu musikalischem Gemetzel – zu Schlachtmusik in keineswegs heroischem Sinn. Als Kontrast finden sich ruhige lateinische Litaneien – Trauergesänge auf die Toten, die auf dem Weg des Herzogs von Gloster zum englischen Thron zu beklagen sind. In das mitunter fast Wagner’sche Orchester-Espressivo mischen sich Erinnerungen an das Anarchische der frühen Arbeiten Battistellis.

Radu Boruzescu baute für de vlaamse opera in Antwerpen eine Arena aus Metallgestänge und Wellblech. Die Installation erscheint leicht schräg gekippt: ansteigende Sitzreihen für das Murren des Volkes, für Ergebenheitsadressen der Oberschicht und Auftritte der klagenden Frauen. Nur das Blut und der rötliche Sand, der es aufsaugt und zwischen den Händen zerrinnt, hinterlassen eine Farbspur in diesem schwarz-weißen Bild.

Ein Dutzend starke Männerstimmen in 18 Rollen sekundieren dem Aufstieg und Fall des Despoten, dessen Deformation und Menschenverachtung Scott Hendricks bedrohlich und brillant singt und spielt – bis hinein in die höchste Not einer vorzüglich choreografierten Schlacht: „Ein Pferd, ein Pferd! Mein Königreich für ’n Pferd!“. Die Feinsymbolik stimmt bei dieser Inszenierung von Robert Carsen mit der Botschaft des Ganzen überein: Die Erinnerung an die Rosenkriege geschieht wesentlich um der Auseinandersetzung mit Diktaturen der Gegenwart willen. Ein Wurf!

Leidende Dichter

Auf die Shakespeare-Zeit griff auch eine bereits in den 90er-Jahren komponierte, erst jetzt in Dortmund produzierte Arbeit des vor allem mit Schauspielmusik hervorgetretenen Eckehard Mayer aus Dresden zurück: „Das Treffen in Telgte“ nach Günter Grass (auch das eine Literaturoper im problematischen Sinn). Andreas Gryphius, Paul Gerhardt und andere prominente Autoren des frühen 17. Jahrhunderts treffen auf halbem Weg zwischen Münster und Osnabrück ein, wo der 30-jährige Krieg durch Friedensverhandlungen beendet werden soll.

Sie disputieren, fressen, erleichtern sich. Am Ende brennt der Brückenhof. Die Regie führende Dortmunder Intendantin Christine Mielitz biss sich an einem Nebenstrang der Handlung fest – an der Bereitschaft der Wirtin und ihrer Mägde, die für die Herren des Wortes gar zu oft die Röcke heben. Mit einem „gemäßigt modernen“ Tonsatz von vier Stunden Dauer (!) wurde die eigentlich fantastische Versuchsanordnung zugemüllt. Der Nobelpreisträger, anwesend bei der Premiere, hat sich höflich distanziert.

Entschieden näher an die Gegenwart rückte „Kokain“ von Steffen Schleiermacher (Leipzig) in der Bundeskunsthalle Bonn. Eine Selbstanalyse des expressionistischen Dichters Walter Rheiner, dessen Leben 1925 in einer Berliner Pension trostlos endete, diente als Textfolie. Musikalisch ausgelotet wurden da Depression und Niedergang – eingesprengt sind Erinnerungen an Euphorien. Barbara Bayer stellte dem Gesang der 8 Solisten und den zerklüfteten Klangterritorien der 17 Instrumentalisten eine hermetische Installation entgegen: zwei Dutzend säuberlich aufgereihte Betten, zwischen denen sich die Akteure und zwei Hasen abmühen. Die Suchtprobleme werden nicht diskursiv erörtert – das Schicksal des sich zu Tode koksenden Tobias lässt kalt.

Johannisnacht in Brüssel

Da Azio Corghis „Il dissoluto assolto“ an der Scala in Mailand bestreikt wurde, richtete sich die internationale Aufmerksamkeit auf das Théâtre la Monnaie: „Julie“ nach Strindbergs „Fräulein Julie“. Blond und herrisch kostet Marlena Ernman in Brüssel den Höhenflug und Absturz der Höheren Tochter aus, die an Jean gerät, den ehrgeizigen Hausangestellten. Um ihre Weiblichkeit zu erproben, spannt sie ihn der Köchin Kristin aus.

Der Rausch der Johannisnacht genügt, um die Tragödie zu besiegeln – alle Fluchtideen Julies zerbröseln in den Niederungen der Wirklichkeit. Die ohnedies von Anfang an latente Sehnsucht nach dem freien Fall weitet sich zur Lust am Untergang. Jean schürt diese Gefühle und stachelt zum Selbstmord an.

Nicht nur im Hinblick auf den ungleich größeren neuen Markt des Musiktheaters im benachbarten Deutschland, sondern mehr noch aus künstlerischen Erwägungen hat Philippe Boesmans (* 1936) auch seine neue Oper in deutscher Sprache komponiert – wie schon bereits beim „Wintermärchen“ und beim „Reigen“, bei denen er ebenfalls mit dem Regisseur und Textbearbeiter Luc Bondy kooperierte. „Deutsch hat eine Sprödigkeit, die für die Musik immer viel besser ist“, erläuterte Bondy. Die Tragödie der jungen Frau aus dem Berlin des Jahres 1888 rückt nahe durch den pfleglichen künstlerischen Umgang mit ihr. Ihr Drama der gescheiterten Befreiung ist wohl auch heute nicht aus der wirklichen Welt – und ermöglicht bestes Musiktheater.