In der Türkei tobt ein Flaggenstreit

Nach einem Zwischenfall bei dem kurdischen Neujahrsfest machen nationalistische Kreise mobil und hissen Fahnen

ISTANBUL taz ■ Eine regelrechte nationalistische Aufwallung beherrscht derzeit die Türkei. Aus zahlreichen Häusern im ganzen Land hängt die türkische Fahne, und das Wochenende war geprägt von Aufmärschen, die sich vor allem gegen die Kurden richteten. Anlass für die Fahnen und Märsche war ein Vorfall während der kurdischen Newroz-Feiern am Wochenende zuvor.

Am Rande der Kundgebung zum kurdischen Neujahrsfest in Mersin, einer Großstadt an der östlichen Mittelmeerküste, wurden mehrere Jugendliche beobachtet, wie sie auf einer türkischen Fahne herumtrampelten und anschließend versuchten, diese in Brand zu setzen. Die Polizei identifizierte anhand von Fotos einen 12- und einen 14-jährigen Jungen, die vorläufig festgenommen wurden, um herauszufinden, ob Erwachsene sie dazu angehalten hatten.

Während in den meisten Zeitungen spekuliert wurde, kurdische Organisationen hätten die Kinder vorgeschickt, erklärte der Vorsitzende der prokurdischen Partei Dehap, der Vorfall sei genau umgekehrt eine Provokation der nationalistischen Grauen Wölfe gewesen – die türkische Fahne sei auch „unsere Fahne“. Kurdische Politiker beteuerten wiederholt, sie hätten keinerlei Interesse an der Herabwürdigung der Fahne, und riefen zur Ruhe auf.

Zusätzlich zum Flaggen-Vorfall hatte ein Großteil der türkischen Bevölkerung zunächst beobachtet, erst mit Erstaunen, später dann auch mit durch die Medien angestachelter Wut, wie auf der zentralen kurdischen Newroz-Feier in Diyarbakir massenhaft Öcalan-Porträts gezeigt wurden und die Hauptrednerin Leyla Zana sich gemeinsam mit der Öcalan-Familie auf der Tribüne präsentierte.

Das sei nun das Ergebnis der Reformpolitik des letzten Jahres, behauptete die nationalistische Presse und rief, gemeinsam mit den der ultranationalistischen MHP nahe stehenden Idealistenvereinen, zu einer Antwort auf die „kurdischen Provokationen“ auf. Seitdem wird in der Türkei geflaggt. Waren es erst nur vereinzelte Fahnen, die aus den Fenstern hingen, wurden es im Laufe der vergangenen Woche immer mehr.

Der Höhepunkt der Hysterie wurde am Wochenende erreicht. In etlichen Städten fanden so genannte Flaggenmärsche statt. Konterfeis von Öcalan wurden verbrannt, Parteilokale der Dehap attackiert, und in Bilecik, einer Stadt im Südosten, wurden Flaggen der PKK-Nachfolgeorganisation Kongra-GEL und Bücher des bekannten Schriftstellers Orhan Pamuk verbrannt. Pamuk hatte sich bei den Nationalisten besonders unbeliebt gemacht, weil er in einem Interview vor einigen Wochen gesagt hatte, in der Türkei seien während des Bürgerkrieges mit der PKK 30.000 Kurden und Anfang des letzten Jahrhunderts eine Million Armenier getötet worden.

Die derzeitige nationalistische Aufwallung ist vermutlich auch ein Zeichen für eine beginnende Verbitterung gegenüber einigen Signalen aus dem europäischen Westen. Während die EU sich über ein nachlassendes Reformtempo und prügelnde Polizisten bei einer Demonstration am Internationalen Frauentag beklagt, wird von den türkischen Nationalisten zunehmend erfolgreich behauptet, die Reformen hätten nur dazu geführt, dass die Kurden aufsässig und die türkischen Zyprioten trotz ihres guten Willens von der EU weiterhin diskriminiert würden. Die Türkei insgesamt werde mit einer als unfair empfundenen Armenierdebatte konfrontiert.

Einen Ausläufer dieser Stimmung erlebte der deutsche Botschafter Wolf-Ruthart Born am Samstag in Erzerum. Bei der Feier zur Ernennung des Geschäftsmanns Yilmaz Kuskay zum Honorarkonsul wurde dieser vom anwesenden Oberstaatsanwalt ernsthaft ermahnt, die auf die Torte platzierte türkische Fahne nicht zu zerschneiden.

JÜRGEN GOTTSCHLICH