Auch blind ist Anand unschlagbar

In Monaco ermittelten die Schachspieler ihren Meister ohne Brett und Figuren, aber dafür mit Chunks

BERLIN taz ■ Mit abwesendem Blick stiert Wassili Iwantschuk Löcher in die Decke. Schachbretter sind für den Europameister entbehrlich. Der Schachprofi aus der Ukraine lässt die Springer und Läufer in seinem Kopf tanzen. Beim gestern beendeten Schnellschach-Turnier in Monaco gereichte dies Iwantschuk zum Vorteil. Seit 15 Jahren pflegt der holländische Milliardär Joop van Oosterom die für den Laien beeindruckendste Schach-Variante: das Blindspiel. Dafür benötigen die zwölf Weltklasse-Denkakrobaten weder ein Brett noch Steine. Per Laptop übermitteln sie dem Rivalen ihren Zug und bekommen auf dem Bildschirm mit ansonsten kahlen 63 Feldern nur angezeigt, wohin die letzte gegnerische Figur gezogen ist.

Mit dem Blindspiel faszinierten schon im zehnten Jahrhundert die arabischen Meister ihre Herrscher in den prunkvollen Palästen. Die Laien konnten sich kaum vorstellen, wie sich ein einzelner Mensch 32 Figuren einprägen soll, die beinahe wirr über 64 Felder verstreut scheinen. Als der berühmte Pariser Opernkomponist Philidor, in Personalunion auch größter Schachmeister des 18. Jahrhunderts, es mit verbundenen Augen mit drei Gegnern gleichzeitig aufnahm, nahmen die französischen Aufklärer Diderot und Alambert diese Sensation beeindruckt in ihre „Enzyklopädie“ (1757) auf. Die Kunst trieb Harry Pillsbury zur Blüte. Der amerikanische Gedächtnisakrobat gab rund 150 Blindsimultan-Vorstellungen. 1902 in Moskau saß er mit dem Rücken zu 22 Kontrahenten und Brettern und diktierte denen seine Züge. Ohne einen einzigen falschen Zug anzukündigen, setzte er 17 Spieler matt, vier Begegnungen endeten remis, nur ein einziger konnte Pillsbury bezwingen. Dieser Simultan-Weltrekord wurde von Janos Flesch bis auf 52 Duelle gesteigert. 1960 gewann der Ungar 31 Begegnungen, remisierte 18 und verlor lediglich drei Partien. Bei 52 Partien musste sich Flesch anfangs merken, auf welchen der 3.328 Feldern die 1.664 Figuren stehen. Wahnsinn! Das befanden auch die Sowjets und verboten ihren Weltmeistern und Kronprinzen das Blindspiel, weil: Es zerstöre das Nervensystem und habe Pillsbury und andere in den Wahnsinn getrieben.

Ganz so schädlich scheinen Blindpartien indes nicht zu sein. Die zwölf Teilnehmer des mit 193.250 Euro dotierten Turniers in Monaco erfreuen sich alle noch bester Gesundheit. Und sie produzieren selbst ohne materielle Figuren zuweilen spektakuläre Kombinationen. Der Weltranglistensechste Alexander Morosewitsch (Russland) sieht vor allem einen Unterschied zu den Wettkämpfen mit Figuren und Brettern: „Im Großen und Ganzen erfordert ein Blindduell mehr Energie als eine normale Partie und zwingt einen zu erhöhter Konzentration.“

Versierte Akteure merken sich nicht etwa jeden einzelnen Stein. Stattdessen werden so genannte Chunks (Brocken) gebildet. Beispiele sind bestimmte Bauernketten oder eine Rochade-Stellung. Dabei steht der weiße König auf dem Feld g1, der Turm auf f1 und die drei Bauern auf f2, g2, h2. Damit lässt sich mit dem Begriff „Rochade“ schon fast ein Drittel der eigenen oder gegnerischen Figurenknäuel problemlos memorieren. Wissenschaftler gewährten Schachspielern unterschiedlicher Stärke mehrere Sekunden Blicke auf Positionen. Enthielten diese für den Geübten „sinnvolle“ Chunks, vermochten die Könner weit häufiger die Stellungen zu rekonstruieren als der Rest. Verstreuten die Wissenschaftler aber die Figuren wahllos, erinnerten sich die besseren Spieler nicht viel mehr als die schwächeren.

Letztere verfolgen zu zehntausenden die Monaco-Partien im Internet mit gewisser Schadenfreude. Auf Grund des Zeitdrucks mit nur 25 Minuten pro Partie (plus 20 Sek. pro Zug) patzen selbst die Großen manchmal in den Blindspielen wie Anfänger. Einzige Ausnahme: Viswanathan Anand. Der Inder stand bereits am Mittwoch als Sieger fest. Ob mit oder ohne Brett: Im Schnellschach ist Anand eine Klasse für sich. HARTMUT METZ