Kulturkrampf ums Baby

Dürfen Reiche mehr Geld für Erziehungsurlaub kriegen? Welcher Gott darf in die Schule? Zeugen Akademiker genug? Deutsche quatschen lieber übers Kinderkriegen, als sich ihm hinzugeben

VON CHRISTIAN FÜLLER

Da wird mancher dünnfädig linksgestrickte Beobachter sogleich nervös: Die Konservative rufe zu einem neuen Kulturkampf auf, heißt es. Die Unionschristen nähmen, bloß weil Berlin ein wenig am Religionsunterricht herumzupft, dies zum Anlass, dem compassionate conservatism George W. Bushs nachzueifern.

Gleichzeitig schmeißt, so geht das Klagelied weiter, ausgerechnet die sozialdemokratische Familienministerin den Reichen nun auch noch Geld fürs Kinderkriegen hinterher – indem sie den Erziehungsurlaub von Gutverdienern besser stellt als den von, sagen wir, Friseurinnen und Bauarbeitern.

Das sitzt: Am Vorabend des rot-grünen Regierungsverlusts wachträumt sich’s leicht vom bösen Roland Koch und dem Streber Christian Wulff als deutschen Neokons. Dabei ist der Kulturkampf in Wahrheit ein Kulturkrampf. Auf beiden Seiten wird mit viel Inbrunst zur Ideologie, aber umso weniger Aufmerksamkeit fürs Detail gefochten.

Beispiel 1: SPD, PDS und Grüne wollen einen nichtkonfessionellen Werteunterricht in Berlin zum Pflichtfach erheben; Religion bleibt Wahlfach. Wenn Rauschebart Wolfgang Thierse (SPD) im Gleichschritt mit der Union seine Berliner Genossen der Gottlosigkeit zeiht, so ist das eher den irrationalen Ängsten seines Kirchensprengels im Bezirk Prenzlauer Berg geschuldet als einer ernsthaften Analyse der Berliner Situation. Denn was der Bundestagspräsident unterschlägt: Welchen Werteunterricht, wenn nicht den eines neuen Ethikfaches, genießen denn eigentlich die Kids in seinem Nachbarbezirk Wedding? Oder in den muslimischen Halbghettos anderer deutscher Städte? Genau: keinen – außer den Gehirnwäschen in halblegalen Koranschulen.

Beispiel 2: Renate Schmidt will Gutverdienern künftig mehr Geld in der Elternzeit zuerkennnen als denen aus den unteren Lohn- und Gehaltsgruppen. Das kann nur als neoliberale Reichenprivilegierung verdammen, wer vergessen hat, seine ideologische Brille abzusetzen. Es ist ein statistisches Faktum, dass sich BildungsbürgerIn von heute schwerer tut, die Entscheidung fürs Kind zu fällen. Der unzureichende pekuniäre Ausgleich, der wenn auch nur temporäre Drop-out aus Job und Karriere mag dabei nur ein Grund von vielen für Enthaltsamkeit sein – aber er bleibt ein bedeutsamer. Dass die Familienministerin Akademiker zum folgenreichen Sex ermuntern will, weist sie eher als Querdenkerin aus denn als Wertkonservative.

Die Debatte um die nur scheinbar unzusammenhängenden Themen Werte und Elterngeld gehören ins gleiche Fach. Dass sie beide so aufreizend intensiv geführt werden, deutet nicht allein auf ihre Verwandtschaft hin. Es zeigt auch: Beide Seiten, die Konservativen wie die Linken, haben das Megathema „Familie und Erziehung“ lauthals verschlafen. Für die einen war’s lange Gedöns; für die anderen eine heilige Kuh. Anstatt die gewandelten sozialen Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, machten die Kontrahenten lieber auf Kulturkonflikt – und ließen das Abendland untergehen.

Undogmatische bis witzige Lösungen bleiben dabei auf der Strecke. Die dürfen Ingenieure einsetzen, wenn sie an technischen Problemen knobeln. Immer aber, wenn die Rede ist vom verhinderten, sehnlichst erwarteten oder geborenen Nachwuchs und dessen artgerechter Aufzucht, dann werden die Deutschen sehr grundsätzlich.

Warum dürfen Kinder nicht schon mit zwei Jahren in die Kita? Warum ist es unter Kollegen geradezu geächtet, dass Väter Elternzeit nehmen? Warum endet die Schule mittags? Warum müssen in Deutschland Zehnjährige die finale Entscheidung fürs Studium fällen? Warum kostet der Kindergarten viel Geld, die Uni dafür keinen Cent? Warum ist die Karrierefrau, die nach sechs Monaten in den Job zurückkehrt, eine Rabenmutter? Warum denunziert man unverheiratete Paare als „wilde Ehen“? Warum halten in solchen Beziehungen automatisch die Mütter das Sorgerecht? Nirgends ist die Rate an altbackenen Antworten und Beleidigungen von Lebensstilen so hoch wie bei „Familie“. Der Kulturkrampf dreht sich rund ums Baby – lange bevor es da ist, und weit bis ins Teenageralter hinein.

Die Deutschen quatschen lieber übers Kinderkriegen, als sich ihm fröhlich hinzugeben – und für die Folgen pragmatische Lösungen zu finden.