die obszönitätsfalle von WIGLAF DROSTE
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Für ihr Heft zum Thema „Sünde und Moral“ fragte die Redaktion von Geo Wissen: „Was haben Sie zuletzt als besonders ekelhaft und geschmacklos empfunden? Was ist heute obszön?“ In der Frage war die Obszönitätsfalle schon enthalten. Ulrike Folkerts, die als TV-Kommissarin wie als Sprecherin der „Vagina-Monologe“ von Eve Ensler gleichermaßen unbedarft die Frau als Bessermenschin vorführt, tappte gleich voll hinein: „Die Sendung, die mich zuletzt am meisten beschämt und sprachlos gemacht hat, ist ‚Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!‘ Meine Lebenszeit möchte ich dafür weder vor der Kamera noch vor der Glotze verschwenden.“ Sondern nur beim Drüberreden.

In den Siebzigerjahren reimte man sorglos fröhlich: „Obszön – aber schön!“ Obszönität war eine Verheißung: Der Mief, der Muff, die Enge, die Spießigkeit der deutschen Nachkriegs- und Naziverdrängungsgesellschaft sollten endlich verschwinden und einem freizügigen Leben in Minirock und Afrolook Platz machen. 30 Jahre später kommen Obszönitätsangebote täglich frei Haus. Die Idiotenlaterne Fernsehn speit sie aus, eine Schlammflut von Elektropostwurfsendungen quillt aus dem Netz. Jeder findet hier etwas, an dem er sich erhitzen kann. Die Erregung ist Teil der Obszönitätsfalle, die mit virtuellen Mitteln echte Empörung produzieren will. Deshalb ist jedes Obszönitätsranking Unsinn: Man verhält sich dann genauso, wie Obszönitätshersteller es kalkulieren.

Die Obszönität in der wirklichen, nichtmedialen Wirklichkeit zielt weniger auf Massenwirkung – ohne Effekthascherei kommt auch sie nicht aus. In Leipzig sah ich im Dezember 2004 einen jungen Mann in einer Tätowierbude sitzen. Das Schaufenster gewährte volle Einsicht: Sein Schädel war kahl rasiert, dem Ausdruck seines Gesichts nach hatte die Rasur auch im Inneren des Kopfes stattgefunden. Sein Oberkörper war entblößt, er beugte sich vor, der Tätowierer vollendete seine Arbeit. Gleich dreimal hatte er seinem Kunden in Frakturschrift BÖHSE ONKELZ aufs Kreuz gestochen; als gleichschenkliges Dreieck leuchtete der Name der Deutschland-den-Deutschen!-Ausländer-raus!-Kapelle vom Rücken des jungen Neonazis.

Neben ihm saß, für mich im Halbprofil sichtbar, sein deutsches Mädel und glotzte stolz. Mit dem Instinkt, der einem sagt, dass man beobachtet wird, drehte sie sich zu mir um. Ich stand auf der anderen Seite des Aquariums, gegen die Winterkälte trug ich einen schwarzen Mantel und einen Hut. Sie zeigte mit dem Finger auf mich und sagte, noch durch die Scheibe vernehmlich: „Jude.“ Das Wort, gepaart mit ihrem hasserfüllten Gesicht, hieß: Tod. Es traf, härter als jeder Schlag, den ich je empfing. In ihren Augen war ich weniger als ein Insekt. Dieser Blick war reine Obszönität.

Die es auch dort gibt, wo sich vermeintlich gegen das Obszöne gestemmt wird. Am 27. Januar 2005 trat der notorische Schmieren- und Kitschaggressor Wolf Biermann im Bundestag auf, um am 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz augenrollend in den Saiten seiner Gitarre herumzuwühlen. Er eröffnete der Obszönität eine ungeahnte Dimension. Man muss das dennoch gelassen sehen: Etwas anderes hat der Mann eben nicht gelernt.