Die arabische Misere

Im Nahen Osten zielen zwei Kräfte auf Regimewechsel: terroristische Dschihad-Kämpfer und militante Neokonservative aus den USA. Doch die Rechnung könnte ganz anders aufgehen als gedacht

VON JÖRG SPÄTER

Im Jahr 1971 erschien im Suhrkamp Verlag Maxime Rodinsons „Islam und Kapitalismus“ auf Deutsch. In der Einleitung bejubelte der noch junge Bassam Tibi einen Paradigmenwechsel in der westlichen Islamforschung: das Ende des Orientalismus. Gemeint war damit zum einen das Ende einer wissenschaftlichen Tradition in der Orientforschung, in der die Philologie dominierte und nicht die Analyse von Sozialstrukturen und politischen Ideen. Zum anderen begrüßte Tibi den Beginn einer „geistige Dekolonisation“. Rodinson hatte argumentiert, dass das Ausbleiben einer dynamisch-kapitalistischen Entwicklung im islamischen Orient nicht mit dem Islam selbst erklärt werden könne, und somit die Lehre vom homo islamicus als Ideologie zurückgewiesen.

Die Frage, ob der Islam mit dem Kapitalismus, der Demokratie, der Zivilgesellschaft, mit Menschenrechten, Meinungsfreiheit, einem säkularen Humanismus und sonstigen Eigenschaften des „Westens“ vereinbar sei, ist ein Dauerbrenner, seit sie muslimische Modernisten gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Angesicht des Kolonialismus und der Erfahrung der Unterlegenheit gestellt haben. Max Weber hat sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts federführend für alle Geisteswissenschaften negativ beschieden, und auch die von Rodinson attackierte Orientforschung glaubte lange, jener homo islamicus sei nur mit Koranexegesen und Ähnlichem zu erforschen. Seit dem 11. September 2001 wird gefragt, wie islamisch der Terror von al-Qaida sei und ob jener – um Begriffe des alten Tibi zu gebrauchen – die Wiederkehr des Totalitarismus darstelle. Ist der Islam nun demokratisch oder undemokratisch?

Historisch gesehen kann der Islam genauso demokratisch und liberal wie faschistisch und terroristisch sein. Eben genau deshalb ist es aber auch bedeutungslos, wenn Kultur- und Islamversteher uns etwa nachweisen wollen, dass der Begriff Dschihad nicht unbedingt Krieg, sondern vielmehr geistliche Gymnastik bedeute. Wenn Muslime glauben, Bin Laden handele im Sinne des Islam, dann ist seine Handlung islamisch – ob er den Koran nun richtig verstanden hat oder nicht. Statt nach koranischen Belegen für demokratische Elemente oder deren Gegenteil zu suchen, empfiehlt es sich, die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen anzuschauen, die zum gegenwärtigen Terrorismus beigetragen haben und den Mangel an Demokratie und Zivilgesellschaft im Nahen Osten zu verewigen scheinen.

Genau dies hat Gilles Kepel, ein Schüler von Rodinson, jüngst eindrucksvoll demonstriert. Kepels Anliegen ist weniger das emphatische Einfühlen in die „andere Kultur“ oder das notorisch-neurotische Notengeben für Israel. Kepel interessiert sich für nichts weniger als die Revolution, oder in seinen Worten: „die neuen Kreuzzüge“. Er sieht gleich zwei revolutionäre Kräfte im Nahen Osten am wirken: zum einen die terroristischen Dschihad-Kämpfer, zum anderen militante Neokonservative in den USA. Beide streben einen Sturz der herrschenden autoritären und korrupten Regime an, beide sind bereit, die politischen Verhältnisse gewaltsam zu verändern.

Doch beide revolutionären Strategien gehen, so seine These, letztlich nicht auf. Der „Krieg gegen den Terror“ brachte nicht die komplette Zerschlagung von al-Qaida. Die Dschihad-Kämpfer schwärmten nach dem Verlust der Basis in Afghanistan aus, nicht zuletzt in den Irak. Die Büchse der Pandora ist geöffnet, die Logik des islamistischen Terrors setzt sich fort: Die terroristische Option wird die beherrschende Kriegsstrategie, die den unbesiegbaren „intelligenten Waffen“ der Amerikaner ein „Gleichgewicht des Schreckens“ abtrotzen soll.

Neben den globalen Dschihad, der nun auch von selbstständigen nationalen Gruppen im Irak, in Saudi-Arabien, Marokko, Spanien oder der Türkei fortgeführt wird, tritt aber gleichzeitig die Fitna, der Bürgerkrieg im Herzen des Islam, der der Glaubensgemeinschaft Anarchie und Chaos und damit Zerfall, Zusammenbruch und Untergang bringt. Sein Ziel, durch spektakuläre Aktionen die „Massen der Umma“ zu mobilisieren und mit ihrer Hilfe in den muslimischen Ländern die Macht zu übernehmen, erreicht die salafistische Terroravantgarde somit nicht. Der weltanschauliche Konsens zwischen fanatischen Dschihad-Kämpfern, die bei der städtischen Jugend Anhänger finden, und den gemäßigten Islamisten, die ihren Rückhalt bei den mittelständischen Schichten haben, ist am Zerbrechen.

Diese düsteren Aussichten kontrastiert Kepel mit einer überraschenden Perspektive: Er sieht quasi hegelianisch nach dem politischen und moralischen Scheitern des arabischen Nationalismus und des ihn beerbenden Islamismus nun eine muslimische Demokratie im Entstehen, die das Ergebnis eines „Dialogs“ zwischen den Islamisten, die sich ihrer Sache nicht mehr so sicher sind, und den säkularen Demokraten in der muslimischen Welt sein könne.

In der Tat: Die moderaten Islamisten distanzieren sich von den radikalen und gewinnen, so der ägyptische Politikwissenschaftler Amr Hamzawy, überall an Boden. Zwar hat der Revolutionskrieg gegen den Irak nicht den gordischen Knoten durchschlagen und zunächst nicht die Demokratisierung der ganzen Region eingeleitet. Gleichwohl hat er in den Debatten um Demokratie und Zivilgesellschaft unter arabischen Eliten und Intellektuellen zu einer Polarisierung geführt, die langfristig vielleicht doch die Verhältnisse zum Tanzen bringen könnten. Nur die psychologische Wirkung der Parole „Regime Change“ vermag zu erklären, warum im Libanon die Regierung nach ein paar Demonstrationen panikartig zurücktrat. Kein Tabu ist es inzwischen mehr, laut zu fragen, ob die arabischen Gesellschaften überhaupt das Potenzial zur Demokratisierung hätten oder ob man nicht auf externe Hilfe angewiesen sei. Der Prozess der Selbstkritik ist auf Dauer kaum aufzuhalten.

Im Moment jedoch verlängern sowohl Dschihadismus und „Krieg gegen den Terror“ als auch deren Scheitern die arabische Misere. Denn die autoritären Regime gehen zumindest kurzfristig gestärkt aus dem drohenden Chaos hervor, indem sie sich als Garanten gegen den drohenden Kampf aller gegen alle anbieten und sich als Verfechter eines wieder belebten Nationalismus gegen den Imperialismus aufspielen. Dieser Nationalismus, auch der säkulare, hat ein Weltbild gestiftet, das grundlegend für die Krise des Nahen Ostens verantwortlich ist: Demokratie und die Freisetzung einer Zivilgesellschaft seien so lange nicht möglich, wie Israel und die USA die Region beherrschten und die Palästinafrage in ihrem Sinne regelten. Obwohl dieses Junktim keine rationale Grundlage hat – warum sollten zig Millionen von Arabern die politischen und bürgerlichen Rechte vorenthalten werden, nur weil die Palästinenser lediglich eingeschränkte haben? –, hat es über Jahrzehnte eine Überzeugungskraft behalten, die ihresgleichen sucht. Umso bemerkenswerter ist es, dass bei den Studentenunruhen im Iran – bezeichnenderweise zwar ein muslimisches, aber kein arabisches Land – im vergangenen Jahr die Parole zu hören war: „Vergesst Palästina!“

Auch die Entwicklung in der Nahostdiplomatie fördert die Restauration des Status quo vor den „neuen Kreuzzügen“. Die US-Administration ist bereits wieder auf einen realpolitischen Kurs eingeschwenkt. Die großen Pläne für den Mittleren Osten, die „Greater Middle East Initiative“, haben auf dem G-8-Gipfel im Sommer in Sea Island ein Staatsbegräbnis erster Klasse erhalten. Seitdem gilt ein neuer, von Frankreich und Russland mitgetragener Plan, mit dem schönen Namen „Partnership for Progress and a Common Future with the Region of the Broader Middle East and North Africa“. In ihm sind die Führer des Nahen Ostens nicht mehr Haupthindernis für Reformen, sondern Partner. Sie werden weiterhin „Reformrummel“ und „Demokratisierungstheater“ (Hamzawy) von oben feilbieten, und man wird sich in Europa mit Sicherheit und wohl auch in den USA damit begnügen. Nur zu gut weiß man dort, dass eine Demokratisierung mancher arabischer Länder nicht unbedingt eine Verminderung des Hasses auf den Westen oder Israel mit sich bringt. Die irakische Lösung ist keine Blaupause für die gesamte Region. „Regime Change“ oder gar eine Invasion plus Besatzung sind für den Iran keine aktuelle Option mehr. Und im Libanon wird der Rückzug der Syrer jene konfessionellen Führer wieder ins Spiel bringen, die einst maßgeblich für den Bürgerkrieg verantwortlich waren.

Ein Haupthindernis für die Entwicklung von freieren Gesellschaften in der arabischen Welt ist nach wie vor die vom Nationalismus durchdrungene politische Kultur. So fragt der irakische Schriftsteller und Publizist Najem Wali zu Recht: „Warum hat die herrschende arabische Kultur der letzten drei Jahrzehnte mit ihren Veröffentlichungen keine Intellektuellen hervorgebracht, die den Grundstein für eine Kultur, eine Philosophie und ein intellektuelles Leben gelegt hätten, die sich nicht aus einem Männlichkeitskult, aus Feindseligkeit und Aggressivität nährten und in denen nicht nationalistischer Übereifer pulsierte?“

Historisch ist der arabische Nationalismus nicht nur eine Reaktion auf Kolonialismus, Fremdbeherrschung und Modernisierungsdruck, sondern auch untrennbar mit dem erfolgreichen Projekt der zionistischen Nationalbewegung verbunden – und hat sämtliche antisemitischen Register der europäischen Nationalismen in sich aufgesogen. Der arabische Nationalismus als „Defensivkultur“ (der mittlere Bassam Tibi) hat nach der politischen Machtübernahme in Ägypten, Irak oder Syrien das Selbstbild als Opfer der Weltgeschichte kultiviert, was überdies im Falle der Palästinenser von der Weltgesellschaft immer wieder bestätigt worden ist. Diese Kultur mündete im Innern unter der Prämisse von Einheit und Gemeinschaft in einem etatistischen autoritären Modernismus.

Hier wurzelt die bis heute zu beobachtende Staatsfixiertheit in den arabischen Gesellschaften, die – will man dem „Arab Human Development Report 2003“ glauben – nach dem 11. September noch zugenommen hat. So betont zum Beispiel Mohamed Hashem, Chef des wichtigsten unabhängigen ägyptischen Verlages Miret und damit eine gewichtige Stimme der so genannten Zivilgesellschaft: „Obwohl wir eines der wenigen liberalen, linksorientierten Foren in der arabischen Welt sind, bestehen wir darauf, unsere Identität zu bewahren, die definiert ist durch den Hass auf Israel und den Kolonialismus.“

Allein das „obwohl“ birgt Anlass zur Hoffnung, dass ungeachtet des ideologischen Wahnsinns der salafistischen Terroristen, der napoleonischen Hybris des Neokonservatismus und der gegenwärtigen Stärkung der autoritären arabischen Regime die arabische Misere nicht durch den Mangel an Macht definiert bleibt. Je freier eine Gesellschaft ist, desto weniger eingebildete Feinde benötigt sie. Die hausgemachte Misere wird, je massiver sie zum öffentlichen Skandal erhoben wird, irgendwann Geschichte sein. Und sie ist keineswegs das Produkt eines homo islamicus.

Die Zeiten waren übrigens nicht immer so schlecht: Der Jude und Marxist Maxime Rodinson verließ in den Jahren des Nationalsozialismus Europa, um Zuflucht im islamischen Orient zu suchen, dem seine Sympathie galt.

JÖRG SPÄTER, 38, lehrt Geschichte an der Universität Freiburg/Breisgau