Die erste nazifreie Hütte

Zwischen Plattenbauten steht das Wohnhaus, das die Rote Armee heute vor 60 Jahren angeblich als erstes in Berlin eroberte. Zu dem Mahnmal am Rande Marzahns kommt heute kaum noch jemand

VON RICHARD ROTHER

Wer von Osten kommend die Landsberger Allee in die Stadt fährt, kann es leicht übersehen: das erste befreite Haus auf Berliner Boden. Genau 60 Jahre ist es heute her, dass die Rote Armee auf der Allee in die damalige Reichshauptstadt marschierte und am Rande Marzahns die ersten Häuser einnahm.

Obwohl der Giebel des Hauses auffällig gestaltet wurde, ist es heute schwer zu finden. Die Stadt hat sich mit Hellersdorf weiter gen Osten ausgedehnt, und irgendwie geht das einstöckige märkische Landhaus in dem Siedlungsbrei am Stadtrand unter. Der Kaufpark Eiche, ein überdimensionierter Einzelhandelskomplex auf der grünen Wiese, und die Hellersdorfer und Marzahner Hochhäuser bestimmen die Szenerie. Zudem wird das Haus im Osten von einem kleinen Hain verdeckt, den 1985 Thälmann- und Leninpioniere „in Gedenken an die bei der Befreiung Berlins gefallenen sowjetischen Helden gestalteten“. So steht es auf einem Gedenkstein geschrieben, der zwischen Bäumen und Büschen in den Boden eingelassen ist.

Zwischen Gedenkhain und Haus, in dem heute eine kommunale Familienberatung residiert, befindet sich ein kleiner Parkplatz mit einer Besonderheit: Einige der Betonplatten aus DDR-Zeiten sind dunkelrot und so angelegt, dass sie einen fünfzackigen Stern bilden. Ein Motiv, das auch am Giebel des Hauses nicht zu übersehen ist. „Na Berlin – Pobeda“, steht daneben in kyrillischen Buchstaben: Nach Berlin! Sieg! Damit auch Passanten ohne Russischkenntnisse wissen, wo es am 21. April 1945 langging, ist darunter eine Inschrift auf Deutsch: „Auf dem Weg der Befreiung Berlins vom Hitlerfaschismus hissten Sowjetsoldaten in Berlin die Rote Fahne des Sieges.“

Inschrift und Denkmal sind jetzt 20 Jahre alt. Seitdem hat sich am Äußeren des Hauses wenig verändert – nur auf dem Hausnummernschild Leninallee 563 wurde „Lenin“ fein säuberlich übersprüht. Überhaupt begann die besondere Geschichte des Hauses wohl erst mit der Einweihung des Denkmals im Jahre 1985. „Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob dieses Haus wirklich das erste befreite war“, sagt Dorothee Ifland, die Leiterin des Marzahner Bezirksmuseums. Sicher sei nur, dass die Rote Armee am 21. April auf der Landsberger Allee zuerst nach Berlin einrückte – und dass das Haus da stand. Auch sonst sei über das Haus und seine damaligen Bewohner wenig bekannt.

Warum die DDR zum 40. Jahrestag des 8. Mai just dieses Haus zum Denkmal machte – darüber lässt sich nur spekulieren. In den 80er-Jahren habe man versucht, auch kleinere Gedenkstätten vor Ort zu kreieren, sagt Ifland. Von großen Gedenkorten – wie etwa dem Mahnmal im Treptower Park – sei man dabei etwas abgekommen. Möglich ist aber auch eine andere Lesart: Mitte der 80er-Jahre musste der neu geschaffene Bezirk Marzahn seine Identität suchen – ein Blick auf historische Ereignisse und Orte inmitten der Plattenbauten hätte dazu beitragen können.

Heute ist an dieser Ecke Marzahns von Aufbruch wenig zu spüren. „Keine gute Gegend fürs Geschäft“, meint ein Taxifahrer, der an diesem Frühlingsvormittag vor dem Haus schon seit zwei Stunden auf Kundschaft wartet. Zu dem Denkmal – das ihm nicht viel bedeutet – habe er noch nie einen Fahrgast gebracht. Auch eine vietnamesische Blumenhändlerin, die ihren Stand unweit des Hauses betreut, hat wegen des Denkmals kaum eine Pflanze mehr verkauft. Dafür interessieren sich Neonazis für das Haus. Bis vor kurzem sei es mit rechten Parolen beschmiert gewesen, berichten Anwohner.

Aber zum heutigen Jubiläum ist die Fassade sauber. Geplant ist eine Feierstunde mit Veteranen der Roten und der polnischen Armee. Danach soll die nahe gelegene Brücke über die Wuhle nach Nikolai Bersarin, dem ersten sowjetischen Stadtkommandanten Berlins nach dem Krieg, benannt werden.