Mit dem Peer kamen die Pfeifen

Arbeiterliedgut, Bratwurst und Steinbrück-Bashing: Wie MLPDler, Hartz-Gegner und Gewerkschafter in Gelsenkirchen den ersten Maifeiertag seit Beginn der Kapitalismusdebatte begingen

AUS GELSENKIRCHENMANFRED WIECZOREK

Hat die Kapitalismuskritik des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering mehr Menschen zu den Mai-Kundgebungen mobilisiert? In Gelsenkirchen, wo Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD) gestern Hauptredner war, gab es keine klare Antwort. „Es sind kaum mehr“, sagt ein Mai-Kundgebungsbesucher kopfschüttelnd, während eine Demonstrantin deutlich mehr TeilnehmerInnen zählt. Rund 3.000 sollen es laut Polizei sein. Mehr als in den vergangenen Jahren.

Mieteraktivisten, Marxisten-Leninisten, Wahlalternative. Für Gelsenkirchen gilt: Man kennt sich und bleibt unter sich. Aus den Lautsprechern der MLPD dröhnt die Internationale, das Werksorchester Consol intoniert: „Der Mai ist gekommen“. Gesprächsthema Nummer eins an diesem 1. Mai: die Kapitalismusdebatte. „Gut gebrüllt Löwe, aber jetzt müssen den Worten auch Taten folgen“, sagt der IG-Metall-Bevollmächtigte Alfred Schleu. Es könne doch nur gut sein, wenn ArbeitnehmerInnenrechte, Mitbestimmung und Kündigungsschutz wieder Thema seien. Gerd Seifert dagegen findet Münteferings Klassenkampf einfach nur peinlich. „Schließlich regieren die doch“, sagt der Lehrer. MontagsdemonstrantInnen gegen Hartz IV machen Stimmung mit Trillerpfeifen und Sprechchören. Sie sind hier, um gegen Steinbrück und die SPD zu protestieren.

Beim DGB zeigt man sich jedoch gut vorbereitet. Lange Sitzbänke mit SPD-AnhängerInnen, dazu ein Ring aus GewerkschafterInnen, Jusos und Grubenwehr-Leuten schirmen die Bühne ab. Dahinter versammeln sich die SPD-KritikerInnen. Als Josef Hülsdünker, DGB-Vorsitzender Emscher-Lippe, die Kundgebung eröffnet, gehen die ersten Worte im gellenden Pfeifkonzert und Buh-Rufen unter. Die Lautsprecher werden lauter gedreht, und die Männer und Frauen an den Trillerpfeifen sparen sich weitgehend ihre Luft für Peer Steinbrück. Nur vereinzelt wird die Rede des DGB-Vorsitzenden NRW, Walter Haas, gestört. Der spart nicht mit Kritik an Kapitalismus und Neoliberalismus. Er beschwört NRW als beinahe letzten Hort der sozialen Marktwirtschaft und bereitet Steinbrück so die Bühne.

„Wir begrüßen einen wahren Freund Gelsenkirchens, der stets an unserer Seite steht“, trägt DGB-Mann Hülsdünker etwas dick auf. Noch nicht ganz ans Mikro getreten, trifft den Ministerpräsidenten der geballte Zorn. „Weg mit Hartz IV“ und „Märchenonkel, Märchenonkel“ schallt es ihm entgegen. Doch Steinbrück ist nur kurz verunsichert, erinnert an die zahlreichen Arbeitskämpfe, das Ringen um mehr als tausend Arbeitsplätze, das im letzten Jahr die Stadt erschütterte. Nur selten bezieht er sich auf die lautstarken DemonstrantInnen. Als er merkt, dass er damit die Proteste immer nur von Neuem entfacht, lässt er es schließlich ganz sein. Immer wieder vom Redemanuskript abweichend unterstreicht er mit viel Gestik und Mimik seine Argumente, versucht auch mit Kapitalismuskritik zu punkten: „Ständig steigende Gewinne dürfen nicht zum alleinigen Maßstab für unternehmerischen Erfolg werden.“ Man müsse den Erfolg auch an neuen Jobs messen. Die Reihen der SPD hat er an diesem 1. Mai schließen, vielleicht die eine oder andere Skepsis überwinden können. „Es ist gut, einen Ministerpräsidenten zu haben, der sich bei den Gewerkschaften unterhakt“, beendet DGB-Mann Hülsdünker die Kundgebung. Das Werksorchester bläst „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“. Die meisten Menschen drängt es zu den Getränkeständen und Würstchenbuden.

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