„Verfassung“ klingt nur aufregender

Es ist höchste Zeit, sich mit der EU-Verfassung zu beschäftigen. Am 29. Mai wird in Frankreich ein heiß umkämpftes Referendum stattfinden. Und schon am kommenden Donnerstag will der Bundestag dem Vertragswerk zustimmen, am 27. Mai dann der Bundesrat.

Die EU-Verfassung besteht aus vier Teilen. Zunächst werden in 60 gut lesbaren Artikeln die Werte, Ziele und Grundstrukturen der EU erklärt. Als zweiter Teil folgt mit 54 Artikeln die Garantie von Grundrechten für die Bürger.

Der unverdauliche dritte Teil beschreibt in 322 Artikeln die Kompetenzen und Verfahren der Europäischen Union im Detail. Hier wurden die bisherigen Vertragsbestimmungen überwiegend unverändert übernommen. Am Ende folgen zwölf Schlussbestimmungen, die unter anderem regeln, wie man die Verfassung wieder ändern kann.

Die Verfassung stellt Europa nicht auf den Kopf. Die EU bleibt im Wesentlichen so, wie wir sie kennen: Die Kommission macht Vorschläge, über die nationale Minister im Rat verhandeln und beschließen; das Europäische Parlament muss zustimmen oder wird zumindest angehört; und EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht. Dieses Grundmuster gilt schon seit Jahrzehnten und wird auch von der künftigen EU-Verfassung beibehalten.

Anders als bei der Einführung des Binnenmarktes oder der Währungsunion gibt es diesmal auch kein großes Projekt, das die EU für alle sichtbar verändert. Es werden nicht einmal wesentliche Kompetenzen auf die EU übertragen. Die Verfassung beinhaltet lediglich eine Vielzahl mehr oder weniger sinnvoller Vertragsreformen, deren zehn wichtigste die taz auf dieser Seite vorstellt. Würden sie in Kraft treten, wäre das überwiegend positiv. Kommt die Verfassung nicht zustande, kann die EU aber ohne größere Probleme nach den derzeit geltenden Regeln fortfahren.

Das Aufregendste am neuen EU-Vertrag ist der Name „Verfassung“, der nach europäischem Neuanfang klingt. Aber hier wird kein neuer Staat gegründet. Das sieht man schon daran, dass die EU-Verfassung nicht per Volksabstimmung oder durch eine verfassunggebende Versammlung angenommen wird. Vielmehr wird sie, wie frühere Verträge auch, von den Mitgliedstaaten nach jeweils nationalen Regeln ratifiziert.

So findet in zehn Staaten eine Volksabstimmung statt, in fünfzehn Staaten genügt die parlamentarische Zustimmung. Spätestens im November 2006 soll die EU-Verfassung in Kraft treten – wenn alles glatt geht.

Letztlich sind die EU-Verträge und die Verfassung nur der Rahmen, in dem reale Politik gemacht wird. Wer in der EU wirklich Einfluss nehmen will, muss sich vor allem um konkrete europäische Projekte kümmern, etwa die Dienstleistungsrichtlinie, die Chemikalien-Verordnung oder die Neuregelung von Software-Patenten – und zwar bevor diese im Ministerrat und im Europäischen Parlament beschlossen wurden.

CHRISTIAN RATH

Die EU-Verfassung im Netz: www.europa.eu.int/constitution/index _de.htm