Wegweiser für Wackelkandidaten

AUS BRÜSSELDANIELA WEINGÄRTNER

Brüssel steckt derzeit den Kopf in den Sand. Die politische Klasse scheint von einem seltsamen Aberglauben befallen: Wenn wir keinen Notfallplan vorbereiten, wird es auch keinen Notfall geben. Wenn wir glaubhaft machen, dass es aus der Sackgasse, in die ein gescheitertes Verfassungsreferendum in Frankreich die Union führen würde, keinen Notausgang gibt, werden die Franzosen am Ende doch zustimmen.

Doch die wenigsten Wähler dürften sich von der Prognose beeindrucken lassen, dass Europa nach diesem Schock in ein Wachkoma fällt, das mehrere Jahre dauern kann. Wer eine sozialere, demokratischere Verfassung will, wird die Denkpause als Chance begreifen. Wer aber den europäischen Einfluss auf die nationale Politik zurückdrängen möchte, käme ebenfalls hervorragend damit zurecht, dass eine EU aus fünfundzwanzig Mitgliedern nach den derzeit geltenden Spielregeln wenig zustande bringt.

Die Drohung, es gäbe nur die Wahl zwischen der neuen Verfassung und dem alten Nizza-Vertrag, ist also für viele Verfassungsgegner gar keine. Vielleicht wäre es an der Zeit, den Neinsagern deutlich zu machen, dass auch andere Szenarien denkbar sind. Wenn bis Ende 2006 vier Fünftel der EU-Staaten die Verfassung nach ihren jeweiligen Regeln per Referendum oder per Parlamentsvotum ratifiziert haben, tritt der Europäische Rat zusammen, um „sich erneut mit der Frage zu befassen“, wie es sibyllinisch in einem von allen Regierungen beschlossenen Anhang zur neuen Verfassung heißt. (EU-Verfassung/ Schlussakte)

Das bedeutet: Ein Nein der Franzosen stoppt den Ratifizierungsprozess nicht. Unabhängig vom Ergebnis in Frankreich werden die anschließend geplanten Volksbefragungen in den anderen Ländern stattfinden. Bislang hat nur Tony Blair angedeutet, dass er ein Scheitern in Frankreich zum Anlass nehmen könnte, sich die Niederlage im eigenen Land zu ersparen. Auch wenn Großbritannien nicht ratifiziert und die Wackelkandidaten Frankreich, Niederlande, Tschechien und Polen die Verfassung ablehnen, wird es Ende 2006 einen EU-Gipfel geben, auf dem das Thema Notfallplan als einziger Punkt auf der Tagesordnung steht.

Juristisch lassen sich die Möglichkeiten, die ein Sondergipfel ins Auge fassen könnte, in drei Varianten gliedern.

Variante I: Status quo

Die Zusammenarbeit wird überall dort verbessert und verstärkt, wo es im Rahmen der geltenden Verträge möglich ist. Das geschieht derzeit schon, da die Reform von Nizza den Anforderungen, die aus einem neuen internationalen Rollenverständnis und aus der Erweiterung entstanden sind, vom ersten Tag an nicht gewachsen war.

So haben, von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, sowohl Rat als auch Parlament ihre Arbeit in den vergangenen drei Jahren völlig neu organisiert. Beim Gipfel von Sevilla im Juni 2002 gab sich der Rat eine neue Geschäftsordnung, die den Club der Regierungschefs effizienter und unabhängiger davon machen soll, dass der Vorsitz alle sechs Monate wechselt. Die Rituale des Europaparlaments entschlackte der damalige irische Parlamentspräsident Pat Cox. Die geänderte Geschäftsordnung soll für mehr Effizienz sorgen und die Arbeit der Volksvertreter leichter nachvollziehbar machen. Auch die letzte EU-Kommission unter Romano Prodi hat eine Reform in Angriff genommen, die aber im Beamtenapparat teilweise stecken blieb.

Im Bereich von Außen- und Sicherheitspolitik nehmen einstimmig gefasste Beschlüsse und Verordnungen Elemente der geplanten Verfassung vorweg. Bereits seit Juli letzten Jahres arbeitet die Europäische Rüstungsagentur, die direkt dem Rat zugeordnet ist und dem Außenbeauftragten Javier Solana untersteht. Die Solidaritätsklausel, die die EU-Mitglieder zur gegenseitigen Hilfe bei Terrorangriffen verpflichtet, wurde unter irischer Präsidentschaft beschlossen. Schon jetzt wird in Brüssel darüber nachgedacht, Solana zum europäischen Außenminister zu befördern. Der Rat könnte einstimmig beschließen, den im Rat und der Kommission gleichzeitig angesiedelten Posten unabhängig von der Verfassung einzurichten.

In allen anderen Politikbereichen eröffnet der Nizza-Vertrag die Möglichkeit, dass eine Gruppe von Staaten sich zur verstärkten Zusammenarbeit entschließt. So wie derzeit nur einige Mitglieder den Euro als Währung eingeführt haben und andere ihre Grenzkontrollen beibehalten, wäre auch eine engere Zusammenarbeit der Justizbehörden, der Krankenkassen oder der Umweltämter denkbar.

Europäische Strukturen würden durch diese unterschiedlichen Rechtsinstrumente noch unübersichtlicher und komplizierter als sie es heute schon sind. Mehr Rechte für das europäische Parlament und ein einfacheres Entscheidungsverfahren für den Rat würde es nicht geben, weil diese Institutionen für alle Mitgliedstaaten nach den gleichen Regeln funktionieren müssten. Statt mehr Bürgernähe und Transparenz würde das Flickwerk an Reformen genau das Gegenteil bewirken.

Variante II: Verfassung light

Was beim Maastricht-Vertrag in Dänemark gelang und beim Nizza-Vertrag in Irland geglückt ist, wird bei der Verfassung wiederholt. Die Dänen erhielten nach dem gescheiterten Referendum Sonderregeln. Sie durften ihre Dänische Krone als Währung behalten und stimmten dem Vertrag in einem neuerlichen Referendum zu. Die Iren bekamen nach der gescheiterten Volksabstimmung eine teure proeuropäische Kampagne verpasst, die ein Nein in den düstersten Farben malte. Danach wurde ihnen der Vertrag von Nizza ein zweites Mal zur Abstimmung vorgelegt – und sie akzeptierten ihn.

Diese Variante könnte zum Einsatz kommen, wenn ein kleines Land wie Holland oder Tschechien die Verfassung ablehnt. Haben alle anderen mit Ja gestimmt, könnte man die Wähler mit der Drohung überzeugen, dass die neue EU sonst eben ohne sie stattfindet. Es glaubt aber niemand, dass man den Franzosen eine derartige Kampagne aus Zuckerbrot und Peitsche verpassen und danach ein besseres Ergebnis erreichen könnte.

Vielleicht könnte man ihnen aber den ersten Teil der Verfassung, in dem die Unionsziele, Zuständigkeiten und Arbeitsweise der Institutionen geregelt sind, und den zweiten Teil mit der Grundrechte-Charta schmackhaft machen. In einer Mini-Regierungskonferenz würde man diesen Komplex abtrennen und als Verfassung der Europäischen Union erneut zur Abstimmung stellen. Der ganze Teil drei, der ähnlich schon im Nizza-Vertrag steht, bliebe unverändert in Kraft. Dieser Ausweg könnte in Frankreich die Wende bringen. Für Großbritannien wäre er völlig ungeeignet, weil es gerade die Grundrechte-Charta und die gewachsenen Rechte des Europaparlaments sind, die von den Briten abgelehnt werden.

Variante III: Alles auf Anfang

Alle Länder, die eine gemeinsame Verfassung wollen, kündigen die EU-Verträge und gründen eine neue Union. Dieser Weg brächte ganz sicher für die Kooperationswilligen den größten Mehrwert an Transparenz, Effizienz und gebündelten Kräften. Eine solche Revolution hätte natürlich gewaltige diplomatische Verwicklungen zur Folge. Richtig lohnen würde sich der Kraftakt eigentlich nur, wenn eine verfassunggebende Versammlung den ursprünglichen Text wieder aus der Versenkung holt. Sämtliche Abstriche, die im sozialen Bereich, bei den Grundrechten und in der Außenpolitik gemacht wurden, um die Briten bei der Stange zu halten, wären dann ja überflüssig.

Das Verhältnis der Vereinigten Staaten von Europa zum übrigen EU-Binnenmarkt müsste durch Verträge neu geregelt werden. Die Dynamik der ständigen Erweiterung wäre unterbrochen, was nicht nur die Franzosen freuen würde. Wahrscheinlich würde aus diesen nebeneinander bestehenden Mitgliedschaften erster und zweiter Klasse eine Sogwirkung erwachsen, die mittelfristig dann doch wieder alle 25 unter dem Dach der Vereinigten Staaten von Europa zusammen führt. Diese für europäische Verhältnisse kühne Variante zieht derzeit leider niemand ernsthaft in Erwägung. Dass aber in Kommissionskreisen über Variante II nachgedacht wird, die Reform im Ernstfall neu zu verhandeln, deutete Justizkommissar Frattini letzte Woche in mehreren Interviews an. Ratspräsident Juncker widersprach prompt. Sollten vier Fünftel zusammenkommen, werde der Rat einen Ausweg finden – auf der Grundlage des jetzt ausgehandelten Verfassungsvertrages.

Wie es weitergeht, hängt also vor allem davon ab, wie viele Länder ihre Zustimmung verweigern und welchen Rang sie in der Europäischen Union haben. Da so unterschiedliche Länder wie Großbritannien und Frankreich aus so diametral entgegengesetzten Motiven die Verfassung ablehnen, ist Variante I derzeit am wahrscheinlichsten. Das würde dazu führen, dass europäische Politik noch komplizierter wird. Und noch langweiliger.