„Man knüpfte nahtlos an die Nazi-Ideologie an“

Der Bremer Sinto Ewald Hanstein hat mit seinen „Erinnerungen“ keine laute Anklage gegen die deutsche Mehrheitsgesellschaft verfasst – aber seine Schilderungen legen offen, welche Zumutung es für einen überlebenden Sinto bedeutete, im Nachkriegsdeutschland einen Neuanfang zu machen

„Ich hoffe, in den letzten 60 Jahren zumindest einige Täter mit meinen Worten getroffen und aufgerüttelt zu haben, ebenso wie einige der Würdenträger, die für das andauernde Unrecht an den Sinti und Roma verantwortlich sind.“

bremen taz ■ „Wenn ich schon so viel Mühe hatte, eine kleine Entschädigung zu bekommen, wie ging es dann erst den vielen anderen Opfern in unserer Volksgruppe?“ Diese Frage wurde für den Bremer Sinto Ewald Hanstein in den 80er Jahren Ansporn, sich für die Rechte der Sinti und Roma einzusetzen – zuletzt als Vorsitzender des Landesverbandes der deutschen Sinti und Roma. Heute ist Hanstein über 80 Jahre alt. Drei Konzentrationslager – Buchenwald, Auschwitz und Mittelbau-Dora, den Todesmarsch und den Verlust von Freunden und Verwandten durch rassistische Verfolgung hat er überlebt. „Meine hundert Leben“ heißt nun seine Biographie*, die der Journalist Ralf Lorenzen einfühlsam und klar aufgezeichnet hat. Es ist eine Lebensgeschichte, die einen scharfen Schatten auf das Heute wirft, auch weil Hanstein darin deutliche Worte findet für die Täter und die Opfer: Sinti und Roma, eine Minderheit, deren Auftreten Hanstein selbst als „verschüchtert“ beschreibt – aus Gründen, die er den Leserinnen nicht vorenthält: Im Nachkriegsdeutschland „knüpfte man nahtlos an die Nazi-Ideologie an, wobei sich die Wiedergutmachungsbehörden der Täterakten als Beweismittel bedienten“.

Wie Diskriminierung funktionierte, legt Hanstein in seiner Biographie anhand von Erinnerungen und Dokumenten offen. „Ich konnte lesen und schreiben, ließ mir nichts gefallen und kannte mich mit den Behörden aus“, blickt er zurück. „Die meisten anderen verstanden wenig von dem, was um sie herum vorging und waren ängstlich. Viele von ihnen besaßen nicht mehr die nötigen Papiere zum Nachweis ihrer Verfolgung oder ihr Misstrauen gegen Ämter und Ärzte war so stark, dass sie keine Angaben machen wollten. Die Furcht war alles andere als unbegründet, denn wer Pech hatte, erkannte im Gutachter einen ehemaligen Peiniger wieder“, nennt der Senior dann Namen: Von den MitarbeiterInnen der „Rassehygienischen Forschungsstelle“ Eva Justin und Leo Karsten, die die Verwandtschaftsbeziehungen von Sinti und Roma bei den ersten Zwangsinternierungen ausforschten, beispielsweise weiß er, dass sie später als Gutachter in Wiedergutmachungsprozessen von Sinti und Roma auftraten.

In Bremen stellte die notwendigen Bescheinigungen über erlittenes Unrecht der ehemalige Leiter des „Zigeunerdezernats“ höchstselbst, Wilhelm Mündrath, aus. Der Mann hatte Verhaftung und Deportation persönlich organisiert, berichtet Hanstein – und war dennoch „bis zu seinem Ruhestand 1958 ein respektiertes Mitglied der Kriminalpolizei“. Auch in anderen Landeskriminalämtern, Gesundheitsämtern und Behörden erkannten die Verfolgten Sinti und Roma manche „Organisatoren des Völkermordes“ wieder. Hanstein selbst erhielt erst 1980, nach langen und peinvollen Untersuchungen, eine kleine Rente als „verfolgungsbedingte Entschädigung“.

Doch sind die „Erinnerungen eines deutschen Sinto“, wie das Buch im Untertitel heißt, nicht als große Anklage oder Abrechnung verfasst – auch wenn sie authentisch berichten über eine Zeit, deren große Grausamkeit das Leben danach überschattet. Da liefert die Lebensgeschichte Hansteins neben schonungslosem Bericht zugleich einen Einblick in das Alltagsleben einer ethnischen Minderheit – und macht dabei ihre Vielfalt sichtbar: Es gab den Vater Hanstein, Gärtner und Kommunist, die Mutter Maria, verkaufstüchtige Reisende, die liebevolle Großmutter und den bewunderten Onkel Rukelie, der 1933 deutscher Meister im Halbschwergewicht wurde. Dass der Bund Deutscher Berufsboxer ihn erst 2003 rehabilitierte – nachdem die Nazis dem Sinto den Titel abgesprochen hatten – ist die traurige Wahrheit, wie so vieles im Leben Hansteins traurig und bitter war. Auch seine geliebten Schwestern und Tanten, die den kleinen Hanstein einst umsorgten, wurden schließlich in den Nazilagern von Deutschen ermordet.

Dass Hanstein, der im KZ Rache geschworen hat, seine Lebensgeschichte heute dennoch erzählt, in der sogar im Nazi- und KZ- System gedungene Mittäter vorkommen, auch wenn sie Sinti waren, ist umso bedeutsamer, als er auch heute noch „andauerndes Unrecht an den Sinti und Roma“ feststellt. Und es ist Botschaft: „Ich hoffe, in den letzten 60 Jahren zumindest einige Täter mit meinen Worten getroffen und aufgerüttelt zu haben, ebenso wie einige der Würdenträger der Bundesrepublik Deutschland, die für das andauernde Unrecht an den Sinti und Roma verantwortlich sind.“ ede

*Meine hundert Leben, Erinnerungen eines deutschen Sinto, Ewald Hanstein, Donat Verlag, 12, 80 Euro