„Ihr könnt mich mal gern haben“

Gracia Baur? Was man weiß: Sie startet für Deutschland beim Eurovision Song Contest. Sie war in einen Chartbetrug verwickelt. Sie begann als RTL-„Superstar“. Was man nicht weiß: Was ist das eigentlich für eine Frau?

AUS KIEW JAN FEDDERSEN

Sich frühmorgens verabreden geht eigentlich nicht. Um zehn Uhr? Zu früh. Musikernächte, wird man belehrt, gehen bis tief in die Nacht. Gracia erscheint dann aber doch fast pünktlich; draußen scheint die schönste Sonne, sie hat es sogar geschafft, etwas zu frühstücken: „Ich bin fit und mal kein Morgenmuffel.“

Gracia Baur ist 22 Jahre jung und trägt heute eine ausgesprochen aparte Brille. Sie könnte damit als Juniorprofessorin einer juristischen Fakultät durchgehen: smart, hübsch, attraktiv. Mit gewinnendem Lächeln. Na, mal sehen.

Sie ist seit zwei Tagen in Kiew, sie wird am Samstag Deutschland beim Eurovision Song Contest (vormals: Grand Prix Eurovision) vertreten. Sie hat zwei halbstündige Proben hinter sich – und bei der jüngsten, am Vortag, wagte sie zum Auftakt ihres Songs, um den Kameras einen Moment von Dynamik zu bieten, einen Sprung von einem Podest, das so hoch ist wie sie selbst an Zentimetern misst: 1,72 Meter.

„No risk, no fun“, sagte ihr Produzent David Brandes zu dieser Performance. Und Gracia sagt jetzt: „Ich habe mir mal den Fuß gebrochen, und das merke ich auch noch, wenn ich von irgendwo runterspringe. Aber ich will es probieren.“

Sie hat, das darf man sagen, ohne sie zu beleidigen, eigentlich keine Chance. Aber, wie sagt man? Sie will sie nutzen.

So erzählt sie also ihre Geschichte, für die sich sonst in Kiew „niemand so recht interessiert“. Es ist die eines „süßen Münchner Kindes“, wie es aus ihrem Umfeld heißt, das mit 13 anfängt, sich als Sängerin zu erträumen. Die Geschichte verläuft klassisch: Üben mit Bürsten und Wasserflaschen, die richtige Mikrohaltung, dann der Wunsch an die Eltern, zum Geburtstag Gesangsstunden zu kriegen: „Ich bin ehrlich: Ich hab am Anfang überhaupt keinen Ton getroffen.Meine Stimme war eher piepsig.“ Sie lächelt. „Aber dann ging es schnell. Ich traf die Töne und merkte, dass mir nur meine Angst, zu singen, im Wege stand.“

Das Kind begann zu ahnen, dass es lernen kann, auf der Bühne zu stehen, ohne ausgebuht zu werden. Dann wurde sie, etliche Jahre später, auf die RTL-Show „Deutschland sucht den Superstar“ aufmerksam und bewarb sich zum Casting. Ward genommen und schaffte es, erst kurz vor dem Finale herausgewählt zu werden. „Die Leute, die für mich waren, taten so, als wäre ich gestorben. Aber ich sagte, hey, ich bin nicht tot. Das Leben geht weiter.“ Aber es gestaltete sich für die nun Volljährige schwierig. Zwei Singles erreichten noch in die Charts, das Album ebenso, aber die „Promotion meiner Company“, der BMG, „die wurde schlechter und schlechter.“ Außerdem, „mit so einem Casting-Stamp auf der Stirn nimmt dich ja auch keiner so schnell“.

Sie galt einerseits in der Branche als Bühnentier, als echtes Showtalent, als durchsetzungsfähig. Sie galt aber auch als zickig, ja, als Gegenteil der „Puppet on a String“, der Marionette von testosteronbesoffenen Produktmanagern. Sie wollte sich einmischen in die künstlerischen Dinge. Oje. Jeder, der die Musikindustrie kennen lernen konnte, weiß: Das ist eine Todsünde. Zumindest für Leute am Anfang der Leiter. Einer der ersten Songs sollte „Give Me Your Sexy Energy“ sein: „Nein, das ging gar nicht. Bin ich also zu meinem Plattenboss gegangen und hab gesagt, sag mal, was hältst du von mir, was soll ich denn auf der Bühne machen. Mit Stringtangas rumlaufen? Den Song kannst du dir stecken.“

Ein anderes Mal kommentierte jemand einen ihrer Songs von der Stange mit den Worten: „Boah, da ist mir gerade der Hosenknopf aufgegangen“.

Da, sagt Gracia, „bin ich aufgesprungen und hab gesagt, das geht mit mir nicht“.

Um es kurz zu machen: Gracia Baur, dieses Kind aus gutem Münchner Hause, war nicht führbar. Sie lehnte sogar, so geht zumindest das Gerücht in Kiew, das Angebot von Bild ab, sie als protoerotisches Objekt abzulichten: „Sexy Gracia is over“, soll in die Redaktion des Boulevardblatts gemailt worden sein.

Gracia sagt: „Ich bin keine Puppe, die man aufziehen kann, bis die Batterien nicht mehr gehen. Meine Batterien lasse ich nicht aufladen, das mach ich selbst.“

Gut für sie, dass ehemalige Popmusik-Moguln wie Thomas Stein über sie nur Prächtiges zu sagen wissen. Stimmen gebe es genug. Gracia habe, was den anderen fehle: Personality.

Gracia Baur hat aus eben diesem Grund auch mehr Prüfungen in ihrem Business aushalten müssen als andere. Sie traf schließlich David Brandes, Inhaber von Bros-Music im Badischen. Er schrieb ihr Rocksongs. „Run & Hide“ das Lied, mit dem sie den deutschen Vorentscheid gewann, ist aus dieser Kollektion: „Ich singe einen Song, den ich ohnehin aufgenommen hatte. Jetzt singe ich ihn bei der Eurovision.“

Was nach dem Sieg von Berlin kam, die Betrugsvorwürfe gegen Manager Brandes wegen gekaufter Chartplatzierung, die Negativschlagzeilen? Dazu nicht viel. Zwischendurch dachte sie: „Ihr könnt mich mal gern haben“.

Was beide, Baur und Brandes, miteinander sonst noch teilen, wissen nur sie allein, „das ist auch meine Sache, das ist privat“. Jedenfalls hat Brandes ihr Lieder geschrieben, die ihr gefallen. Allerdings sind es uncoole Lieder – gemessen an hippen Acts wie Juli, Wir sind Helden oder Silbermond.

Gracia Baur singt vom Stoff, der anderen Mädchen gefällt, aber sie passt nicht so recht in deutsche Stimmung der wolkenverhangenen Laune.

Deutschland, sagt sie, mache alles nieder, was an Musik selbst aus dem Land kommt – Ausländisches werde gehypt: „Ich bin Patriotin, aber das dürfen wir in Deutschland ja nicht so sein.“

Warum nicht?

„Aus allgemeiner Verklemmtheit. Ich kann ja nichts dafür.“

Wofür?

„Für das Dritte Reich.“ Sie sei „nicht verantwortlich.“ Sie müsse „nur daraus lernen“.

Ist sie konservativ?

„Was ist das?“

Na, gegen Ganztagsschule sein, für Frauen in den Haushalt.

Jetzt lacht sie: „Mein Vater ist bei uns zu Hause geblieben, als wir Mädchen zehn wurden, meine Mutter verdient mehr Geld. Und für Ganztagsschule bin ich sehr wohl. Ich käme auch nie auf die Idee, als Frau nicht für mich selbst sorgen zu können.“

Homoehe?

„Nur die Liebe zählt. Könnte doch sein, dass ich eine Frau liebe. Manche Sachen mögen von der Natur nicht normal sein, aber sie sind normal in unserer Gesellschaft.“

Kirche?

„Ich glaube an Gott. Aber die Kirche als Institution interessiert mich nicht.“

Sie wird ihre Wohnung in Köln auflösen, das steht fest. Wieder ins Elternhaus ziehen, „da kümmert man sich um mich, da fühle ich mich wohl. Inmitten all der Vertrautheiten, der Belanglosigkeiten. Das ist für mich konservativ – und das gefällt mir.“

Frau Baur, denken Sie manchmal an Sonntag? Sie überlegt: „Meinen Sie, wenn die Eurovision vorbei ist?“

Ja.

„Nein, ja, klar, hm, nun, ja, dann geht das Leben weiter. Ich werde weiter als Musikerin arbeiten.“

Ein Wunsch? „Ich will Sonnabend nicht Allerletzte werden.“