Ankunft im Leben

Als Peter Heilbut dem Todesmarsch aus dem KZ Sachsenhausen entkommen war, hatte sein Weg in die Normalität gerade begonnen. Teil II

VON HEIKE HAARHOFF

5. Mai … und morgen werde ich zum Bürgermeisteramt gehen, werde mir, der ich mich letztlich nur noch als Nummer 65615 gekannt habe, meine wiedergewonnene Identität wenn schon nicht bestätigen, so doch provisorisch bescheinigen lassen als Peter Heilbut, geboren in Sonneberg bei Thüringen am 13. April 1920, Haarfarbe dunkelblond, Augenfarbe blau, besondere Kennzeichen keine, mal abgesehen von den momentanen Malaisen, als da sind verschorfte Gesichtshälfte, verschobene Kinnlade, eingefallene Wangen, hinkender Gang.

Eigentlich ein guter Schluss. Peter Heilbut hätte sein Buch so enden lassen können. Viele Schilderungen von Holocaust-Überlebenden gehen nur bis zu dem Tag, da die schon nicht mehr existierend geglaubte Freiheit endlich wiedererlangt wird. So als wäre, nachdem die Hölle überstanden war, die Rückkehr in das zivile Leben anschließend ein Selbstgänger. „Aber es war ja nicht vorbei“, sagt Peter Heilbut. Sechzig Jahre sind vergangen seitdem. Er sitzt in seinem Wohnzimmer in Hamburg und spricht sehr leise, eigentlich müsste er den Satz laut ausrufen, „es war ja nicht vorbei“, aber der Krebs, die heimtückische Krankheit, raubt ihm die Kraft. Nichts war vorbei, frei war er, sicher, aber zu Hause angelangt noch lange nicht, und die Zumutungen, die bürokratischen Schikanen und vor allem das Gedankengut in den Köpfen vieler Deutscher, das war ja nicht plötzlich verschwunden.

4. Mai. Wie heißt es doch so verheißungsvoll? „Klopfet an, so wird euch aufgetan.“ Irrtum! Die Türen, an die wir klopften, blieben stumm und verschlossen. Alle. Möglich, dass Augen aus Gardinenspalten spähten. Die, die da vor den Türen standen, sahen alles andere als vertrauenerweckend aus.

Vorbei war nur dies: Ihm, dem 25-jährigen KZ-Häftling aus Freital bei Dresden, der zusammen mit mehr als 30.000 anderen Gefangenen aus Sachsenhausen am 21. April 1945 von den Nazis auf einen Todesmarsch geschickt worden war, ihm war die Flucht geglückt am 2. Mai 1945, zusammen mit seinem Begleiter Hans Schulz. Der Plan des Reichsführers der SS, Heinrich Himmler, die KZ-Häftlinge auf eine letzte Vernichtungsreise zu schicken, damit sie nicht von den heranrückenden Alliierten befreit würden, war nicht aufgegangen. Wie durch ein Wunder entkamen sie unentdeckt. Einen Tag später erreichten Hans Schulz und Peter Heilbut die amerikanische Front bei Crivitz in Mecklenburg. Sie waren freie Männer, denen man nun, da der Krieg verloren war, mit Respekt vor dem geschehenen Unrecht begegnen würde. Dachten sie.

20. Mai. „Ist es sehr schlimm gewesen? Für dich im Krieg, meine ich?“ Sie sieht mich mitfühlend an. Die Ruhewochen hier in Badow haben mir gute Heilung und Erholung gebracht. Doch so ganz verschwunden sind die Spuren vergangener Desaster noch nicht. Spielt sie darauf an? „Im Krieg“, sage ich, „ich war nicht im Krieg, wie man Krieg eben so versteht. Ja, schlimm, schrecklich war es trotzdem!“ – „Nicht im Krieg?“ Ich seh zum ersten Mal ein kleines Lachen in ihrem Gesicht, erstaunt: „Wo warst du denn dann?“ Ich zögere lange. „Ach, du“, sage ich und stocke, lenke dann ab: „Ich find’s gar nicht so lustig, dass ich nicht weiß, wie ich dich nennen kann …“ – „Bitte, glaub mir, es ist besser so, bitte!“ – „Na gut denn. Weißt du, was ein KZ ist? Ein Konzentrationslager?“ – „Nnnein.“ – „Ach, etwas ganz, ganz Schreckliches. Aber lass es. Unsere Zeit ist viel zu schade.“

Es waren amerikanische Soldaten, die dafür sorgten, dass schließlich ein Ehepaar aus dem mecklenburgischen Dorf Badow den beiden vorübergehend Unterkunft gewährte, fast drei Wochen lang, bis sie ein wenig bei Kräften waren. Peter Heilbut sagt, dass er wenig Erinnerungen an diese Zeit hat. „Ich weiß, dass ich immer nur Orgel spielen wollte in der Kirche von Badow, wenn es ging, zweimal am Tag.“ Orgel spielen, einer zufälligen Melodie folgen zurück in die Kindheit, als noch alles möglich schien. Orgel spielen, um zu vergessen. Was in den Jahren ab 1933 geschah, vor allem. Die Verhaftungen des Vaters, der Jude und Sozialdemokrat gewesen war und das politische Ressort bei der Dresdner Volkszeitung geleitet hatte. Die eigene Verhaftung, die Zeit in Gestapo-Haft in Dresden und später im KZ Sachsenhausen. Die permanente Angst um den Rest der Familie. In Badow saß er an der Orgel und war glücklich. Wie anders sollte er auch mit der unglaublichen Gewissheit fertig werden, plötzlich tatsächlich frei zu sein? „Ich habe mich dann noch verliebt in Badow“, sagt Peter Heilbut. Sie war noch Schülerin, ahnungslos. Aber sie lieferte ihm unfreiwillig eine wichtige Erkenntnis. Er brauchte sich keinen falschen Illusionen hinzugeben: KZ-Überlebende würden in der deutschen Nachkriegsgesellschaft keine besondere Rücksichtnahme genießen. Er kennt ihren Namen bis heute nicht.

Peter Heilbut hat die Begegnungen, die knappen Gespräche, die Eindrücke aus seinen Wochen in Badow rekonstruiert anhand seiner Notizen von damals, er hat sie aufgeschrieben, jetzt, sechzig Jahre später, zu einem Buch für seine Frau, Lindgart Heilbut, seine Kinder und Enkel. Es sollte nicht alles verloren gehen, auch nicht, wie es ihm gelang, nach dem Nazi-Terror wieder ein vermeintlich normales Leben zu beginnen. Jahrelang hat er ihnen nur antworten können: „Ich bin mit den Worten meines Vaters aufgewachsen – so ist die Situation, sieh zu, dass du damit zurechtkommst.“

26. Mai. Am Morgen mit großer Abmarsch-Motivation vorm Bürgermeisteramt. Aber so schnell kommen wir nicht los. Erstens, belehrt uns Herr Henzing, Bürgermeister-Vertreter, habe er keine Berechtigung, Genehmigungen zu erteilen. „Da müssen Sie rüber in die Kommandantur. Das machen die Amerikaner. Und zweitens: nach Zarrentin? Die Erlaubnis kriegen Sie nicht. Das sind allein schon 17 oder 18 Kilometer Luftlinie. Erlaubt sind 15 Kilometer, und zwar Wegstrecke!“ Da laufen Sie gut 20 Kilometer und mehr. Aber nun, Ihr Problem! Probieren Sie’s halt.“

Sie konnten schließlich nicht ewig in Badow bleiben. Hans Schulz war in Hamburg geboren und hatte dort vor dem Krieg einen Zigarrenladen gehabt; er wollte zurück, achtzig Kilometer zu Fuß. Es war im Grunde genommen ein unmögliches Unterfangen für zwei Männer, die die jahrelange Tortur im KZ und den anschließenden Todesmarsch nur knapp überlebt hatten. Doch anders war Hamburg nicht erreichbar. Peter Heilbut schloss sich ihm an. Er wusste aus Briefen seiner Mutter, dass sie sich im Frühjahr 1945 nach Hamburg zu Freunden geflüchtet hatte mit der jüngeren Schwester. Seinen Vater, Kurt Heilbut, hatten die Nazis 1943 in Auschwitz ermordet.

Bei der Zwangsarbeit in Sachsenhausen hatten sich Peter Heilbut und Hans Schulz kennen gelernt. Ein Dreivierteljahr hatten sie dort zusammengearbeitet, als einzige Deutsche des Arbeitskommandos. Die gemeinsame Sprache schweißte sie zusammen. Hans Schulz war damals schon weit über fünfzig, er hatte zwei Jahre wegen Schieberei im Gefängnis gesessen und war von dort ins KZ deportiert worden. Sie hatten zum Überleben Lebensmittel und Streichhölzer innerhalb des KZ geschmuggelt, sie hatten den Todesmarsch überlebt, jetzt würden sie die restliche Strecke bis Hamburg auch gemeinsam meistern. Peter Heilbut hat bis heute viele kleine Erinnerungsstücke aus der damaligen Zeit aufbewahrt, ein paar Bindfäden aus der KVA, seine Häftlingsnummer, einen Bleistiftstummel, Briefe seiner Mutter nach Sachsenhausen. An Hans Schulz erinnert nichts im Haus. Er findet das nicht erstaunlich: „Wir waren keine Freunde, wir waren eine Zweckgemeinschaft.“

30. Mai. Es beginnt zu dämmern. Ein Dorf vor uns. Wie ausgestorben. Suchend blicke ich mich um, und da… Auf dem Fußweg drüben liegt ein Haufen – ja was? Ein fast wadenhoher Haufen Geldscheine. Deutsche Reichsmark. „Das gibt’s doch nicht!“, sagt Hans. Er bückt sich, befühlt das Papier, noch bereit halbe-halbe zu teilen. Schließlich war ich der Entdecker. „Das nehmen wir uns“, sagt Hans und blickt um sich. „Hans“, sage ich, „die Nazizeit ist vorbei, das hat man weggeworfen, das ist wertloses Zeug!“ – „Ach, lass man“, sagt er und beginnt, die Scheine in seinen Beutel zu stopfen, in den riesengroßen. Ich fange an zu lachen. „Hans, was willst du damit! Der Krieg ist vorbei. Das Dritte Reich ist vorbei. Das gibt neue Scheine irgendwann. Die kannst du dir höchstens einrahmen zur Erinnerung!“ Und während Hans mit vollen Händen immer weiter stopft, habe ich die Hände in die Seiten gestützt und lache, was das Zeug hält: „Hans, Hans! Das Zeug ist wertlos!“ – „Ach, lass man“, reagiert Hans in Ruhe und stopft. Dann ist abgeräumt. Wir gehen weiter. Ich immer noch mit kopfschüttelndem Schmunzeln. Und er wohl mit Wissen um den wahren Sachverhalt.

„Das Misstrauen gegenüber Menschen, das werden Sie nicht mehr los“, sagt Peter Heilbut. Er klingt, als würde er es gern abschütteln, aber es gelingt ihm nicht. Es funktioniert wie eine Schutzhülle. Niemandem mehr sollte es gelingen, ihn zu demütigen, ihn zu missbrauchen. Und trotzdem.

Es war 1946, und er hatte gerade begonnen, Fuß zu fassen in Hamburg. Ein Stipendium war ihm ein Jahr zuvor bewilligt worden, er konnte sich seinen Lebenstraum erfüllen und mit 25 Jahren noch das Klavierstudium aufnehmen. Da kam ein Brief aus Dresden. Er betraf seinen ermordeten Vater, die Stadt Dresden wollte ihm zu Ehren eine Straße nach ihm benennen. Peter Heilbut und seine Mutter sollten dabei sein, wenn das Schild aufgestellt würde. Sie fuhren hin. Dresden lag immer noch in Schutt und Asche. Schließlich fanden sie trotzdem das Rathaus. Ein Stadtverordneter kam an. Was sie wollten? Die Heilbuts verstanden nicht recht. Kurt Heilbut war Sozialdemokrat gewesen, in Dresden regierten jetzt die Kommunisten. Da herrschte der Politiker sie auch schon an: „Bei uns hätte Ihr Vater auch hinter Gittern gesessen.“

31. Mai. Wir legen unsere Marschpapiere vor, alle. „Das könn’ Sie in’ Papierkorb werfen; Hamburg ist zu. Hamburg ist voll. Hamburg kann nicht mehr!“ Hans: „Ich, zumindest ich, bin Hamburger!“ – „Können Sie das beweisen? Haben Sie einen Pass? Wehrpass?“ Jetzt mische ich mich mit ein: „Mein Gott, sehen Sie nicht, wenn schon nicht an unserem Zustand, dann an meiner Jacke, dass wir aus einem Konzentrationslager …“ – „Konzentrationslager!“, schreit der Beamte. „Es wimmelt hier herum von Leuten, die kommen alle ausm Konzentrationslager. Ich kann das Wort Konzentrationslager schon nicht mehr hören!“

1946 in Dresden, sagt Peter Heilbut, erlebte er vielleicht zum ersten Mal, wie seine Mutter die Fassung verlor. Sie, die ihm die zeitraubenden Gänge zu den Behörden abnahm, nur damit er sich ganz auf sein Studium konzentrieren konnte, sie, die klaglos hinnahm, dass die Stadt Hamburg ihr geringere Bezüge auszahlte als anderen Witwen von Auschwitz-Ermordeten mit der Begründung, ihr Mann sei schließlich in Dresden und nicht in Hamburg verhaftet worden, sie blickte über die Trümmerwüste von Dresden und sagte zu ihrem Sohn: „Wenn du hier auch nur einen Stein anfasst, sind wir geschiedene Leute.“

Stumm sitzen wir nebeneinander. Nur ein einziger kurzer Satz fällt während der Fahrt. „In Hamburg“, sagt Hans, sichtlich verlegen, und stockt, „in Hamburg, da geht das nicht mehr – mit uns.“ Ich schweige. Das war schon die ganzen Tage über zu spüren. Oje! Wie Geld einen Menschen verändern kann! Gut. Was soll es. Profitiert habe ich zuletzt auch davon. Dass er den Schalterbeamten hat bestechen müssen, um an die Karten zu kommen, das ist mir klar. Und nun auch, dass das Geld seinen Wert hat.

Erst 1996, sieben Jahre nach dem Fall der Mauer, wurde in Freital bei Dresden eine Straße nach Kurt Heilbut benannt, sie liegt in einer Plattenbausiedlung fernab des Wohngebiets, in dem die Heilbuts lebten, „es ist schon etwas“, sagt Peter Heilbut.

Stationen. Allermöhe. Billwerder. Rothenburgsort. Berliner Tor. „Hauptbahnhof. Alle aussteigen.“ Wir sind da. Verlegen stehen wir beieinander. Wissen nicht, was sagen. Gehen langsam auf die Treppe zu. Neben uns rollt der Zug wieder an, einem Abstellgleis entgegen. Plötzlich stoppt Hans abrupt: „Unsere Kochgeschirre!“ – „Puh“, sage ich, „die liegen im Wagen, im Gepäcknetz. Die haben wir glatt vergessen.“ – „Vergessen?“, schreit Hans mich an, „da hättest du dran denken müssen!“ Jetzt begehre auch ich auf: „Wieso ich! Du hättest doch genauso gut dran denken können…“ Wir starren uns zwei Sekunden lang an. Dann macht Hans kehrt. Ich sehe ihn die Treppe trotzig hinaufstapfen und oben meinen Blicken entschwinden. Kein Ade. Kein Händedruck. Kein gegenseitiges Hab Dank für gemeinsam ertragene Bitternisse und Gefahren.

Hans Schulz ist Peter Heilbut ein einziges Mal wieder begegnet, es war 1950, auf dem Hamburger Rathausmarkt, er stand kurz vor seinem Klavierexamen. Sie grüßten sich, fragten einander, was sie machten, Hans Schulz hatte wieder ein Tabakwarengeschäft, und dann war das Gespräch zu Ende. „Na dann, mach’s gut“, wünschten sie einander zum Abschied.

1. Juni. Jetzt stehe ich in der Schlange beim Einwohner-Meldeamt. Ob man’s glaubt oder nicht: In der Trümmerwüste Hamburg gibt es ein funktionierendes Einwohner-Meldeamt! Schulbänke als Barrieren zwischen dahinter wirkenden Behörden-Damen und davor wartenden Fragestellern. Ich bin dran: „Berendsohn“ [die Hamburger Familie, bei denen seine Mutter und Schwester Unterkunft gefunden hatten, d. Red.]. „Mit H?“ – „Ja, das H bei …sohn.“ Warten. Sie kommt zurück: „Ja, hier habe ich die Anschrift. Rolf Berendsohn. Ich schreibe sie Ihnen auf.“ – „Danke“, sage ich und will nach dem Zettel greifen. Sie zieht ihre Hand weg: „Die Auskunft kostet 50 Pfennige.“ Mir stockt erst mal das Herz. „Oh. Fünfzig Pfennige? Ich habe keine fünfzig Pfennige.“ – „Dann kann ich Ihnen die Adresse nicht geben.“ – „Entschuldigen Sie. Ich war in einem Konzentrationslager. Jahrelang, und da gab es kein Geld.“ Sie zögert. „Trotzdem“, sagt sie, „ich darf’s Ihnen nicht geben.“

Das Erzählen hat ihn angestrengt. Im Rückblick, sagt Heilbut, sei er manchmal selbst überrascht über seine Zähigkeit und seinen festen Willen, in dieser ersten Nachkriegszeit niemals aufzugeben. Vielleicht hätte er es anderswo leichter gehabt. „Aber wohin sollte ich gehen?“, fragt Peter Heilbut. Deutschland verlassen? Er schüttelt entschieden den Kopf. „Ich gehöre hierher.“

HEIKE HAARHOFF, 35, ist Reporterin der taz. Die Geschichte ist die Fortsetzung von „Todesmarsch in die Freiheit“ (taz.mag 23. 4.)