Seltsam und biegsam

Einmal erkannt, taucht diese randlose Brille plötzlich auf jeder Nase auf. Ein Zeichen! Aber was hat es zu bedeuten?

Wunderbare Welt der Wahrnehmung! Ist ein beliebiger Aspekt der Welt erst einmal vom Radar unserer Aufmerksamkeit erfasst worden, dann scheint plötzlich die ganze Welt voll davon zu sein, dann begegnen wir diesem Detail immer und überall wieder. Es ist ein drolliger, aber alltäglicher Effekt, am Anfang verblüffend, im Abgang banal.

Entsprechend groß war denn auch meine Überraschung, als ich ausgerechnet auf der Nase von Donald Rumsfeld entdeckte, was ich mir selbst erst wenige Wochen zuvor gekauft hatte: eine Brille. Eine Brille der österreichischen Firma Silhouette, randlos, ohne Scharniere, biegsame Bügel aus Titan. Kein schönes Gefühl, mit dem Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten von Amerika irgendetwas zu teilen – und sei es auch nur der Brillengeschmack.

Kurz darauf begegnete mir die Brille zufällig erneut, diesmal im Gesicht des italienischen Außenministers und Neofaschisten Gianfranco Fini. Und beim irischen Politiker Gerry Adams, dem Vorsitzenden der Sinn Féin, dem politischen Arm der IRA. Und beim russischen Oligarchen Michail Chodorkowski, dem seit Monaten der Schauprozess gemacht wird. Und und und.

Seitdem begegne ich „meiner“ Brille fast täglich, in der Zeitung, im Fernsehen, in der U-Bahn. Entsetzen, Schuldgefühle oder Scham sind längst einer routinierten Langeweile gewichen: „Aha, sieh an, mal wieder eine Silhouette, so, so.“

Auch habe ich es aufgegeben, aus der Wahl des Modells Rückschlüsse auf den Charakter des Trägers ziehen zu wollen. Welchen Reim sollte ich mir etwa darauf machen, dass der abgewählte NRW-Ministerpräsident Peer Steinbrück die Welt durch dieselbe Brille sieht wie der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber?

Überhaupt gibt es nur zwei Sorten von Brillen, einmal solche, die man schon von ferne fast rufen hört: „Ja! Ich bin eine Brille! Mitten im Gesicht! Was dagegen?“, und dann wieder solche, die von ferne fast unsichtbar sind, sich ins Schlichte flüchten – weniger Brille würde Kontaktlinsen bedeuten. Für den gespenstischen Erfolg der Silhouette gibt es wohl nur eine banale Erklärung: Eitelkeit. FRA