Wenn das Fett brennt: mit Bier löschen!

Jeder ist des anderen Fleisch: Marius von Mayenburgs neues Stück „Turista“ verwandelt einen Campingplatz im Süden in einen Kampfplatz der Nöte. Erst bei den Festwochen in Wien, ist es in der großartigen Inszenierung von Regisseur Luk Perceval jetzt an der Schaubühne in Berlin zu sehen

VON SIMONE KAEMPF

Campingplätze hatten ja noch nie den besten Ruf. Natürlich könnte der Ort auch eine Utopie sein, wo man fast unbekleidet lebt und nicht arbeitet, als sei es ein Paradies. Wer hier ankommt, der klemmt seinen Körper in enge T-Shirts, Röcke und Bikins, bekleidet sich und ist doch nackt. In seiner Inszenierung von Marius von Mayenburgs neuem Stück „Turista“ wirft Luc Perceval den Blick wie hartes südliches Licht auf die Haut und offenbart in jedem Körper große Not. Manchen reicht zur Triebabfuhr das Reiben an einer Luftmatratze, bei anderen offenbaren sich Exhibitionismus, Obsessionen, Fetischismus.

„Wo ist Oli?“ Wenn die Erwachsenen mit den Erwachsenen triebmäßig fertig sind, sich die Hosen hochziehen und die Röcke sortieren, dann stellt sich wieder der andere Instinkt ein: der nach dem Kind aus dem eigenen Fleisch und Blut. Doch zu spät: Oli ist tot. Sechs Tage lang stirbt er täglich. Sechs mal schneiden dann Taschenlampen Schneisen durch die Orientierungslosigkeit der dunklen Bühne, bis es wieder Licht wird und alles von vorne beginnt.

Der Tatort ist ein Zeltplatz. In der „Ebene von Waterloo hinter dem Teutoburger Wald an der Marne“, so heißt es im Stück. Der Campingplatz als Schauplatz von gleich drei europäischen Schlachten: Kriegerischer geht es kaum. Verstrickter auch nicht.

Die, die in Marius von Mayenburgs neuem Stück zusammentreffen, sind drei Familien, dazu ein junges Paar, drei Jäger und drei Geistesgestörte mit ihrem Sozialarbeiter, anhand deren sich die Motive ausflechten und vertiefen. Es ist Urlaubszeit, die beste Zeit für das Aufbrechen von Beziehungen. Alle politisch-kriegerischen Motive beiseite geschoben, lässt Perceval daraus eine Kraft an die Oberfläche ausbrechen, die schon seit tausenden Jahren zur Vernichtung führt und dazu verdammt ist, rituell aufs Neue hochzusickern.

Um Antworten geht es in „Turista“ nicht. Gründe und Motive verharren stilisiert und abstrakt wie das Bühnenbild von Annette Kurz: eine runde Arena, ausgelegt mit Holzbohlen dunkel wie ein deutscher Wald. Kein Ort für Vernunftmenschen. Permanent bleiben alle 24 Schauspieler auf der Bühne – nicht, um in Abgrenzung zueinander die Identität zu finden, sondern als Masse aus Körpern, die ihre eigenen Gesetze und Kräfte entwickelt. Die Schauspieler formieren sich immer wieder neu auf der Bühne, sie rennen im Kreis, bis einer ausgegrenzt dasteht wie in der „Reise nach Jerusalem“.

Über vier Stunden lang ist dieser Abend, der nach der Premiere bei den Wiener Festwochen vergangene Woche jetzt in Berlin zu sehen ist und an Percevals Antwerpener „Het Toneelhuis“ laufen wird. Über drei große Bögen ist der Abend aufgebaut. Die Unmittelbarkeit des Spiels nährt sich von dem anti-illusionistischen Ausstellen der Körper, für das man Perceval kennt, und das nichts mit reinem Bloßstellen zu tun hat.

Kinder, die in die Welt ziehen und wieder zurückkehren, gehören zum deutschen Märchenschatz: Hänsel und Gretel lassen grüßen. Die Schrecken der Kindheit: Wer sie sich nicht vom Leib redet, schleppt sie weiter, und so reden die Alten über das Durchbraten von Grillfleisch und andere Banalitäten des Camperlebens. Wenn es ernst wird, tragen sie mit Körpersprache ihre Konflikte aus. Nebenbuhler prügeln sich. Die jungen Ängstlichen nässen sich ein und brüten still. Ausbrüche sind garantiert. Jeder ist des anderen Fleisch, das sich anzieht und abstößt.

Die androgyne Judith Engel als Ärztin Schnoock legt bei der Diagnose von Olis Tod eine aseptische Disziplin an den Tag, mit der sie dann auch in der Liebesszene vorm Körperkontakt zurückschreckt. Ihr Gegenstück ist Ruud Gielens als Sylvies Geliebter Bert, der alles rauslässt, kotzt, kopuliert. Ein Mann wie ein Berg, in dem eigentlich noch ein Kind steckt, das mit den Bedürfnissen seines Körpers nicht umgehen kann. Da ist Thomas Bading als Vater Dietmar, um den sich der missbrauchte Sohn wiederum sorgenvoll kümmert. Alle haben etwas zu viel. Vor allem Benny Claessens als Oli. Ein dickes, nein, ein fettes Kind mit zitterndem Fleisch und behäbiger Geschmeidigkeit, Projektionsfläche für den voyeuristischen Blick der Zuschauer.

Die permanente Herabsetzung des Körpers, die permanente Betonung des Körpers, das permanente ausschließliche Augenmerk auf den Körper, der am Ende doch nur als totes Stück Fleisch zergeht: Dieser Tragik gewinnt einen Perceval einen Abend voll düsterer Kraft ab.