Der Abgang in Würde ist verpasst

Ichbezogen und an Inhalten nicht interessiert: Mit dem Chaos um den Weg zu Neuwahlen ist Schröders Regierungsstil endgültig unerträglich geworden

VON RALPH BOLLMANN

Gerhard Schröder kann nicht länger Kanzler bleiben. Da mögen die Sozialdemokraten noch so tapfer Gerüchte über eine Ablösung des Bundeskanzlers dementieren. Der beschleunigte Verfall der Regierungsmacht, das Chaos in der SPD, die Unsicherheit über einen verfassungsgemäßen Weg zu Neuwahlen: das alles hat seine Ursache in jener kapitalen Fehlentscheidung, die der Kanzler am Abend der nordrhein-westfälischen Landtagswahl verkündet hat.

Alles, was an Schröders Stil schon immer fragwürdig war, hat sich in den Stunden jenes frühen Sonntagabends verdichtet. Das Desinteresse an jeder Art von politischen Inhalten; die Selbstbezogenheit seines Handelns; der Hang zu einsamen Entschlüssen in Rambo-Manier. Die Baufirma Holzmann rettete er in einer spektakulären Aktion – für zweieinhalb Jahre. Gegen den Irakkrieg wetterte er wahlkampftauglich auf dem Marktplatz von Goslar – statt seriöse Diplomatie zu betreiben. Mit der Ankündigung von Neuwahlen zündete er seinen bislang größten Coup – und sprengte sich selbst in die Luft.

Zu Ende gedacht hatte Schröder auch diesen Schritt offenkundig nicht. Bis heute hat der Kanzler keine plausible Erklärung geliefert, wozu der Selbstmordanschlag dienen soll. Noch immer klammern sich die führenden Genossen an die Behauptung, es gelte, die schwarze Blockademacht im Bundesrat zu überwinden. Doch die Verfassung kennt keine Auflösung der Ersten Kammer, weil in der Zweiten Kammer die Mehrheit nicht stimmt. Obendrein wird die zustimmungsreife Föderalismusreform, die diese Blockade überwinden sollte, durch die Neuwahl gerade torpediert. Schließlich wäre der einzige Wahlausgang, der das Patt überwinden könnte, ein Sieg der CDU. Zumindest an diesem Punkt muss sich Schröder kaum Sorgen machen.

Wenn an einen Wahlsieg Schröders aber niemand ernsthaft glaubt, dann sollte Schröder auch nicht mehr antreten. In aussichtslosen Kampagnen an einem Kandidaten festzuhalten gehört zwar zum Einmaleins der Politik. Aber nicht, wenn der Kandidat den Job faktisch bereits hingeworfen hat. Schröder ist zwar nicht bei Nacht und Nebel aus dem Amt geflohen wie einst sein Kontrahent Oskar Lafontaine. Er floh nur in die Ankündigung von Neuwahlen, aber eine Flucht bleibt es doch. Wie einst Lafontaine, so ignorierte auch Schröder die politischen Umgangsformen. Nicht nur, dass der Kanzler erst die Medien und dann den zuständigen Bundespräsidenten über die Neuwahlpläne informierte. Nach dem Zeitpunkt des Telefonats befragt, griff sein Sprecher obendrein zur platten Lüge.

Schon jetzt steht so gut wie fest, dass sich Schröder nach einer Wahl am 18. September aufs politische Altenteil zurückziehen wird. Beim regulären Wahltermin im Herbst 2006 hätte er vielleicht eine Chance gehabt. Heute aber sind seine Aussichten kaum größer als einst beim liberalen „Kanzlerkandidaten“ Guido Westerwelle. Die Wähler haben aber einen Anspruch, zu erfahren, wer denn die SPD in die Opposition oder auch in eine große Koalition führen könnte.

Die Frage ist durch den stereotypen Verweis auf Franz Müntefering keineswegs beantwortet. Denn Müntefering ist in den überstürzten Neuwahlplan genauso tief verstrickt wie Schröder. Er war es, der den Schritt als erster öffentlich verkündete. Er war es auch, der mit so polemischem wie folgenlosem Gerede über „Heuschrecken“ das Ansehen der Agenda-Partei schon im Vorfeld beschädigt hatte. Und nun sollen ausgerechnet diese Figuren der Vergangenheit, Schröder und Müntefering, das Wahlprogramm im Alleingang formulieren?

In den ersten Tagen nach dem Neuwahl-Coup hieß es vielfach anerkennend, dem Kanzler gelinge immerhin ein „Abgang in Würde“. Abgesehen davon, dass von Würde längst keine Rede mehr sein kann: Es geht in diesen Wochen, anders als Schröder glaubt, nicht um die Befindlichkeit eines einzelnen Politikers. Es geht um Politik, und es geht – weil eine starke Opposition dafür wichtig ist – auch um die Partei. Ein Argument für Neuwahlen kann die in der Verfassung nicht vorgesehene Würde des Bundeskanzlers jedenfalls nicht sein. Zum „Abgang in Würde“ führt ein weitaus kürzerer Weg. Er heißt Rücktritt.