Die Differenz ist alles

In der Diaspora zu Hause sein: Stuart Hall, Gründerfigur der Cultural Studies, führt die Leser seiner Essays durch eine globalisierte Welt voll kultureller Paradoxien

VON ROBERT MISIK

Alles ist Kultur, heutzutage. Konflikte sind kulturell kodiert – Stichwort: Kampf der Kulturen. Kultur ist aber nicht nur eine Beigabe zur herrschenden Ökonomie, sondern von ihr ununterscheidbar geworden – Stichwort: Branding etc. Die Kultur, einst ein peripheres Ding, ist so gesehen ins Zentrum gerückt. Gilt Kultur einerseits als „weiche“ Sache, als etwas, was nicht feststeht, was verändert und – „transkulturell“ – übersetzt werden kann, so versteinert sie im zeitgenössischen Diskurs zum Essenzialismus. Identitäten sind fix: Was man ist, das bleibt man. Noch im gutmenschlichen Respekt vor „dem Anderen“ ist die Überzeugung unleugbar, der Andere sei nun einmal irgendwie fundamental „anders“; eine Differenz, die akzeptiert werden müsse und allerlei Relativismus Tür und Tor öffnet.

Dass dieses Feld voller Fallen ist, zeigt sich an der gegenwärtigen Multikulturalismusdebatte. Da lohnt es sich, die Bücher von Stuart Hall in die Hand zu nehmen, für den die Frage der Begegnung von Kulturen, der Missverständnisse, der Projektionen gewissermaßen ein Lebensthema ist. 1932 in Jamaika geboren, 1951 nach Großbritannien ausgewandert, war er eine der Gründerfiguren der Cultural Studies, aber auch der britischen Neuen Linken. Ein schwarzer, linker Professor, war er bald auch schon eine Kultfigur, hip, cool, avant la lettre. Dass er eine Ader für die Aporien des Kulturellen hat, ergibt sich, wie Terry Eagleton in einer Würdigung Halls formulierte, schon aus dem Umstand, dass „Kultur integral für die koloniale Machtausübung“ ist. Wer aus einer Kolonialkultur den Sprung in eine imperiale Herrschaftskultur schafft, dem wird das Sensorium für solche Fragen nicht fehlen. Hall ist, in eigenen Worten, ein „Diaspora-Intellektueller“, einer, der drinnen und draußen ist, aber als solcher ist er auch Avantgarde, denn das ist, so seine Überzeugung, „heutzutage zum archetypischen spätmodernen Zustand geworden“.

Im jüngst erschienenen vierten Band seiner Ausgewählten Schriften, lobenswerterweise vom Argument-Verlag herausgegeben, sind Essays versammelt, die allesamt um die Fragen Identität, Multikulturalismus, Stereotypisierungen und Hybridität, also die globale Mixtur kultureller Codes, kreisen. Hall führt uns in eine Welt voller Paradoxien: Da ist einerseits die „homogenisierende Tendenz der Globalisierung“, der Umstand, dass die Dinge, von New York bis Schanghai, „kulturell ähnlicher auszusehen scheinen“, und anderseits die „starke Zunahme von Differenzen“; das Globale muss mit den lokalen Differenzen immer rechnen.

Doch das Lokale ist längst auch nicht mehr rein, „so genannte traditionelle Identifikationen“ werden ja oft durch empfundene Feindseligkeiten erst erschaffen oder bestärkt. „Alle sind in unterschiedlicher Weise ‚hybridisiert‘ “, wie der „muslimische Student, der weite Hip-Hop-Jeans im Straßenstil trägt, aber bei den Freitagsgebeten nie fehlt“. Und auch der (westliche) Universalismus ist ein Partikularismus, wenn auch einer der besonderen Art, so Hall, denn es sei doch klar, „dass der Liberalismus nicht die ‚Kultur ist, die über den Kulturen‘ steht, sondern die Kultur, die gewonnen hat“. Hall dekonstruiert allzu pausbäckige Vorstellungen von Ethnizität, ohne diese völlig zu verwerfen. „Wir alle lokalisieren uns in kulturellen Vokabularien“, „wir alle kommen von und sprechen von ‚irgendeinem Ort aus‘: wir sind verortet – und in diesem Sinne trägt selbst der Modernste die Spuren von Ethnizität.“

Ein dementsprechend vertracktes Ding ist auch die heutzutage so moderne „Identität“, auf die das seiner selbst bewusste Individuum so viel hält. Die gründet, zunächst einmal, nicht auf dem Identitären, sondern auf der Differenz, also auf den Gegensatz dessen, worauf sie sich beruft: Ich formuliere meine „kulturelle Identität“ nicht aus mir heraus, sondern in Abgrenzung von anderen.

Ohnehin ist das Selbst in der Spätmoderne zerstreut, fragmentiert, jedenfalls niemals eindeutig. Alle Realität spricht den essenzialistischen Blütenträumen hohn. Der „Andere“ steckt immer schon in mir drin, und ich bin, darauf beharrt Hall sowohl mit Verweis auf Foucault wie auf Louis Althussers Ideologietheorie, nie Herr im eigenen Haus: Ideologie „lebt“ mich, etwas denkt in mir.

Was Halls Schriften so fruchtbar macht, sind sein Grenzgängertum und seine Aversion gegen übertriebene Originalität. Witz ja, Aberwitz nein – nie jagt er eine These stringent bis zur Haarspalterei, und er verliert sich auch nicht in einem hermetischen Theoriejargon. Sein Ton ist irgendwo zwischen Hochtheorie und avanciertem Journalismus angesiedelt; Gemeinverständlichkeit ist Hall ein Anliegen. Der Essayismus ist seine Form; in einem halben Jahrhundert Theoriearbeit hat er nicht ein „großes“ – sprich: dickes – Werk verfasst. Die leicht exzentrische Verspieltheit mancher zeitgenössischer Theorie ist seine Sache nicht. Hall ist da gewissermaßen vernünftig. Nie vergisst er, bei allen Überlegungen zu Zeichentheorie und Kodierungen, dass man die „Repräsentation“ für Rindfleisch nicht essen kann, dass die Welt nicht nur eine Metapher ist und dass der Umstand, dass es keine ehernen Gesetze in der Geschichte gibt, „nicht bedeutet, dass der Rückfall in den Feudalismus kommenden Mittwoch möglich ist“ (Terry Eagleton).

Hall ist, kurzum, ein Radikaler mit Realitätssinn – und genau darum extrem lesenswert.

Stuart Hall: „Ideologie, Identität, Repräsentation“. Ausgewählte Schriften 4. Argument Verlag, Hamburg 2004, 236 Seiten, 16,90 Euro