STEFAN KUZMANY über GONZO
: Scharfe Sache

Wer viel wagt, gewinnt mitunter auch viel, beispielsweise Respekt in seinem Viertel

Jetzt ging es los. Zuerst hatte ich gar nichts gemerkt, hatte schon triumphiert, aber zu früh. Ich spürte, wie sich die Schärfe in meine Kehle ätzte, heiß, rot, brennend, nicht auszuhalten. Wasser jetzt. Sofort. Oder Brot. Aber ich durfte nicht. Es war eine verdammte Wette. Ein Kumpel hatte mich reingeritten. 20 Euro gewinnen oder verlieren, darauf kam es auch an, aber vor allem: auf die Ehre. Wer es länger aushält: er oder ich.

Yilderim schaute uns belustigt zu. Der Inhaber des Falaffelladens gegenüber meiner Wohnung war der eigentliche Gewinner dieser Wette. Eine ebenso einfache wie blöde Wette: Wer kann mehr aushalten? Mehr Schärfe, ohne Wasser zu trinken oder Brot zu essen. „Yilderim, mach uns zwei Portionen Falaffel, so scharf wie möglich.“ – „So scharf wie möglich? OK.“

Er frittierte die Kichererbsenpaste. Rollte die Teigtaschen aus. Und bestrich sie mit einer roten Paste. „Mehr“, sagte mein Kumpel. Yilderim warf mir einen Blick zu. Ich nickte. Er strich mehr rote Paste auf den Teig. „Noch mehr“, sagte mein Kumpel. „OK.“

Yilderim bestrich. Bedächtig summte er eine kleine Melodie vor sich hin. Mir war, als ob er leicht den Kopf schüttelte. „Noch mehr“, sagte mein Kumpel. „Mehr geht nicht“, sagte Yilderim. “Doch.“ – “Mehr ist nicht gut“, sagte Yilderim. „Trotzdem“, sagte ich.

Und jetzt diese unerträgliche Schärfe in meinem Rachen. Sie bewegte sich weiter nach unten. Mir wurde flau. Auch mein Kumpel kämpfte. Yilderim grinste. Er hielt zwei Stückchen Fladenbrot und zwei Gläser Wasser bereit. Mein Kumpel griff zu, als Erster. Gewonnen. Es ging auch ums Geld, aber eigentlich um die Ehre.

Seither bin ich der König der Schärfe und ein respektierter Mann im Falaffelladen gegenüber. Und nicht nur dort: mein Ruhm hat sich zum Zeitungshändler nebenan herumgesprochen und auch zum Trödelladen um die Ecke. Nicht dass ich deswegen irgendetwas billiger oder gar geschenkt bekäme. Dennoch: ich bin jetzt voll integriert. Man hat ein Auge auf mich. Beziehungsweise meine Freundin. Wenn sie allein Zigaretten holt, wird sie gefragt: „Wo ist dein Mann?“ Wenn sie am Trödelladen vorbei kommt, allein, fragt man sie: „Wo ist dein Mann?“ Und sollte sie gar in Begleitung eines anderen Mannes unsere Wohnung verlassen, so wie gestern, um bei Yilderim gegenüber einige Biere zu holen, dann fragt Yilderim nicht nur nach mir, sondern stellt auch den fremden Begleiter zur Rede. Meine Ehre wird verteidigt.

Dabei war das ein ganz harmloser Besucher, ein alter Studienfreund, mit dem meine Freundin gestern unterwegs war. Dachte ich. Der Studienfreund schläft noch. Ich gehe nach gegenüber zu Yilderim, um ihm zu sagen, dass er es nicht übertreiben soll mit meiner Ehre. Dass meine Freundin tun und lassen kann, was sie will, und dass das mich nur wenig und ihn überhaupt nichts angeht. Bevor ich etwas sagen kann, sagt Yilderim: „Ich habe gesehen, wie der Typ ihr das Gesäß getätschelt hat.“ (Zitat sinngemäß wiedergegeben)

In diesem Moment kommt ein neuer Gast in den Laden. Er hat ausgeschlafen, der liebe Studienfreund. Er hat einen Kater. Er will jetzt etwas essen, der scharfe Studienfreund. Yilderim summt eine kleine Melodie vor sich hin und tunkt den Löffel in die rote Paste.

Fragen zur Ehre? kolumne@taz.de Morgen: Jenni Zylka über Pest & Cholera