HipHop-Hörspiel hinter Gittern

Für das Doku-Musical „Release“ suchte Paul Plamper Jugendliche aus Berliner Gefängnissen und fand sie in Ingo und Rados aus Plötzensee und Mogli und Sabrina aus der JVA Lichtenberg. Sie rappen: „Lügen haben kurze Beine – check mal deine“

Alles läuft einigermaßen rund. Unsicherheiten und Konflikte werden durch Diplomatie und Elektronikgebastel überbrückt

VON ANDREAS BECKER

„Liebe Gefangene, wer will mit uns an einem Song arbeiten?“ Solche Zettel hängen im Mai 2004 in den Berliner Gefängnissen aus. Paul Plamper hatte schon zwei Jahre zuvor die Idee, eine Art Doku-Musical mit Gefangenen aufzunehmen. Das Problem dabei: Wie kommt man in den Knast rein, wie findet man Teilnehmer, und wie kann man mit Knackis längerfristig zusammenarbeiten? Entstehen sollten Musik und ein Hörspiel, das die eigenen Produktionsbedingungen und das Leben der Knackis dokumentiert und reflektiert. Natürlich musste auch gerappt werden.

Für das Hörspiel muss zunächst ein Produzent beim Radio gefunden werden – auch um den Anreiz bieten zu können, eines Tages tatsächlich eine Öffentlichkeit mit dem eigenen Zeug zu erreichen, das die Gesellschaft sonst nicht so zu interessieren scheint. Isabel Platthaus, Redakteurin bei Eins Live vom WDR, kann das Projekt bei ihrem Sender durchsetzen. Jetzt sucht man also Teilnehmer, außerdem einen Musiker für die Produktion im Knaststudio. Diesen Part übernimmt Schneider TM. Im Sommer 2004 gibt es Treffen mit Gefangenen in drei Knästen. Im Endeffekt entscheidet man sich für vier Leute aus zwei Knästen. Zwei Jungs, Ingo und Rados, kommen aus der Jugendstrafanstalt Plötzensee, zwei Mädchen, Mogli und Sabrina, aus der JVA Lichtenberg.

Da alle vier zu dieser Zeit noch einige Monate abzusitzen haben, produziert man also in zwei Gefängnissen. Manchmal wird telefoniert, Schneider pendelt mit seinen digitalen Tonträgern in der Tasche durch die Gefängniskontrollen. Das Tolle an dem Hörspiel: Es ist kein Fertigprodukt, sondern Dokument eines Work-in-Progress-Dings, das sich „Release“ nennt (so wie schon in den 70ern Drogenausstiegsprojekte gern hießen).

Da telefoniert zum Beispiel Ingo, der sich Klein Egon nennt, in den Mädchenknast und mimt den Macker: „Hey, Mädels in Lichtenberg!“ In dem Hörspiel hört man dann die beeindruckten jungen Frauen, wie sie sich den Rap aus Plötzensee anhören und das ziemlich cool finden, weil die eine Stimme der von Sido ähnelt. Schneider sagt dann nur ganz trocken: Ja, die kennen sich. Die Jungs fordern die Frauen auf, sie zu dissen, die aber haben keinen Bock darauf und rappen: „Wir werden euch nicht dissen, wir werden euch verkaufen an die Massen.“

Diese Zusammenarbeit über zwei Knäste hat was von der inzwischen etablierten modernen Produktionsweise bei internationalen Popsongs, wo einer in L.A. im Studio steht, der andere in London. Die human beatbox wird von Rados gemacht, der teilweise auf Serbokroatisch rappt. Das Schlagzeug kommt von Mogli aus Lichtenberg. Alles läuft einigermaßen rund. Schneider überbrückt Unsicherheiten und Konflikte durch Diplomatie und Elektronikgebastel. Man merkt, dass die Jungs zuerst kaum auf einen Beat rappen können, dann aber immer besser werden.

Im Oktober 2004 gibt es gleich mehrere Probleme. Mogli wird entlassen und darf nicht mehr zu den Aufnahmen in den Knast, weil sie plötzlich ein Sicherheitsrisiko wäre. Sabrina taucht auch nicht mehr zu den vereinbarten Treffen mit Schneider auf. In Plötzensee diskutiert man währenddessen heftig über die Arbeitsauffassung des jeweils anderen. Ingo ist mächtig sauer auf Rados, nennt ihn Zigeuner und sagt, er würde ihm am liebsten eine schnelle Rechts-links-Kombi verpassen, auch wenn er dafür eine Woche Einschluss riskiert: „Du hast ja nichts drauf, ich sitz jeden Tag und schreib an unsrem Text. Ich bin schon seit zwei Jahren und vier Monaten hier, das ist doppelt so lange, wie du überhaupt gesessen hast. Du kommst nicht aus dem Arsch.“ Rados gerät in die Defensive, macht aber weiter.

Dieser dokumentierte Streit ist eines der Highlights des Hörspiels. Man spürt, dass hier Realität in der Luft liegt. Der vermeintlich harte Ingo schlägt dann einen neuen Rap vor über seinen Knastfreund Chico, der nach 14 Monaten plötzlich entlassen wurde und nicht mehr da war als Freund im harten Knastalltag. Wohl auch aus dieser Enttäuschung heraus war Ingo plötzlich so aggressiv. Nebenbei erzählt Ingo weiter von Chico, einem von 80 Insassen der Drogenabteilung, dem man eine Songbotschaft in die Freiheit schicken will. Dann entsteht langsam ein richtig guter Song, für den aber noch ein Refrain fehlt.

Schauspielerin Julia Hummer hört den halbfertigen Song bei Schneider TM im Studio, ist begeistert und spuckt eher zufällig den Spruch aus: „Lügen haben kurze Beine – check mal deine.“ Klein-Egon alias Ingo hatte vorher genial selbstkritisch gerappt: „Ich lüge gerne. Das Lügen ist für mich wie eine unbekannte Macht, es hat mich immer weitergebracht.“

Am Ende des Jahres ist Punk Mogli mit ihrem Hund Motte draußen und lebt in Neukölln. Sie trifft sich draußen mit Schneider und arbeitet weiter an den Stücken. Bei Sabrina, die gern trinkt, läuft’s gar nicht gut. Als sie auf Bewährung draußen ist, lässt sie sich beim Diebstahl einer Flasche Cognac und einer Flasche Wodka erwischen. Vor Gericht in Luckau bekommt sie für diese Lappalie gleich wieder ein halbes Jahr Gefängnis.

Seit Dezember 2004 läuft das Hörspiel erfolgreich in den Sendern der ARD. Durch das angenehm unpädagogische Vorgehen bekommt man einiges mit von der Lebenswelt der jungen Eingesperrten. Inzwischen gab es im HAU 2 eine Liveaufführung des Hörspiels und einiger Songs. Bis auf Sabrina sind alle Exgefangenen mit auf der Bühne. Danach redet man kurz mit ihnen, alle sind ziemlich stolz auf ihr gemeinsames Projekt und wollen alle weiter was mit Musik machen. In diesen Tagen erscheint eine „Release“-Doppel-CD mit dem Hörspiel, Videos und Songs beim umtriebigen Berliner Label „Lieblingslied Records“.