Ein Reiskorn für jeden

Globalisierung und lokale Mikrokosmen: Das „Theater der Welt“ in Stuttgart bewegt sich jenseits der gängigen Wege im internationalen Festivalbetrieb. Dabei wird das Andere überhöht, es haben aber auch Bauernopern Platz. Ein Zwischenbericht

Man fühlt sich bedrängt, aufgefordert zu einer Haltung, und tappt doch im Dunkeln in Ermangelung von Referenzen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Was ist die Welt? Wie viele Menschen leben in ihr? Die Künstlergruppe Stan’s Cafe aus Birmingham findet dafür in ihrer Installation „Of all the people in the world“, eingeladen zum „Theater der Welt“ nach Stuttgart, einfache Bilder. Reiskörner sind ihr Material, für jeden der 6,4 Milliarden der Erdbevölkerung eins. Die werden in der riesigen Wagenhalle, in der früher Züge repariert wurden, zu Haufen, Hügeln, Wällen und Gebirgen aufgeschüttet: eine schneeige Landschaft aus statistischen Größen. Die Masse der weißen Reiskörner in der Halle ist durch die Zahl der Erdbewohner festgelegt, ihre Verteilung aber und was sie repräsentieren, verändert sich jeden Tag.

Hinter dem Spiel mit den Größen steht eine Informationsgesellschaft, die mehr Daten bereithält, als man auszuwerten in der Lage ist: Erst deren Verkettung stößt das Denken an. Es sind die Vergleiche, nahe liegende und überraschende, die den Reis „lesen“ lassen. Der Haufen für alle, die heute geboren werden, ist größer als der Haufen für alle, die heute sterben. Die Aufschüttung für die McDonald’s-Kunden an einem Tag sieht so groß aus wie die der Bevölkerung von Polen.

Vor allem aber lernt man, dass die statistische Größe auch täuschen kann. Menge ist nicht gleich Macht und die Anmutung elementarer Kraft in den großen Bergen täuscht. Überraschend bescheiden fallen zum Beispiel die Ansammlungen der Körner für die Beschäftigten der Automobilindustrie aus, die gerade in Stuttgart eine bekannte Macht sind. Und verschwindend klein wirken die Streuungen der Körner, die Volksvertretungen darstellen.

Wirft die Installation „Of all the people in the world“ den Blick auf einen globalen Kontext, so fokussiert „Küba“ von Kutlug Ataman den Blick auf den Einzelnen und seine Verlorenheit. Die vierzig Videoporträts von „Küba“ werden im Hauptbahnhof abgespielt, in den stillgestellten Wagen eines alten Zuges auf einem Bahnsteig am Rande. Es ist heiß in den Abteilen, der Fahrtwind fehlt. Das Interieur ist so alt wie die Fernsehgeräte, die Ataman für seine Porträts nutzt. Was die Menschen aus Küba, einst eine improvisierte Barackensiedlung kurdischer Migranten in Istanbul, erzählen, ist deprimierend: „Frauen sind besser im Leiden“, sagt eine junge Frau und erzählt von ihrer Entschlossenheit, den Verlobten, den ihre Eltern aussuchten, irgendwann einmal zu mögen. Ein Junge, der nicht HipHop tanzen darf, malt sich seine Flucht aus. Eine Frau, die nicht mehr weiß, ob sie alt oder jung ist, traut sich mit niemandem über ihr Weglaufen aus einer ungewollten Ehe zu reden. Ein junger Mann, der auch wegen Drogenhandel im Gefängnis saß, spricht voller Trauer über das eigene Gewaltpotenzial und das des Ortes. Und trotz alledem wird dieser Stadtteil und sein Mythos als Ort der Verlorenen als Heimat kenntlich in den Gesprächen.

Welthaltigkeit versprechen diese beiden Installationen und den großen Bogenschlag zwischen Bildern der Globalisierung und dem geduldigen Einfriemeln in lokale Mikrokosmen. Solches Mitteln zwischen Nähe und Ferne erwartet man von dem Festival „Theater der Welt“, das nur alle drei Jahre und jeweils in einer anderen Stadt stattfindet. In den eingeladenen Inszenierungen der ersten Festivaldekade aber ist dieser Pulsschlag viel schwerer aufzuspüren.

Die Festivaldirektorin Marie Zimmermann sieht auch „Küba“ als theatrale Inszenierung, weil sie drei Voraussetzungen des Theaters erfüllt: „Ich höre dir zu. Ich sehe dich. Ich will etwas von dir wissen.“ Zimmermann ist in Stuttgart als Dramaturgin des Staatstheaters bekannt. Seit acht Jahren bereist sie die Theater der Welt und arbeitet seit 2001 auch als Programmchefin der Wiener Festwochen. Das Stuttgarter Publikum vertraut ihr und folgt ihrem speziellen Parcours durch die Stadt, der nicht nur viele der Theaterhäuser bespielt, sondern auch neue Orte im Bewusstsein der Kulturbürger verankern will: wie die Wagenhalle in einer Brache zwischen den Schienen oder den Hafen am Neckar, auf dem zur Eröffnung Chöre von Schiffen sangen. Die Resonanz auf das Fest überall in der Stadt ist groß und freundlich.

Die einzelnen Produktionen indes befriedigen weniger. Zu punktuell scheint das Licht gesetzt, mit dem Zimmermann jenseits der gängigen Wege im internationalen Festivalbetrieb Aufmerksamkeit gewinnen will. Denn das noch nicht Gesehene, mit dem sie den westlichen Rationalismus und sein Instrumentarium der Analyse gerne in Frage stellen würde, berührt sich doch sehr schnell mit einer Mythisierung des Fremden.

So zum Beispiel in „Paradise“, einer Performance von den pazifischen Inseln: Von einer Begegnung mit „spiritueller, körperlicher Intelligenz“ und „anderen Energiequellen“ spricht Zimmermann. Tatsächlich ist der ritualisierende Gestus der Performance stark und die Metamorphosen zwischen tierischen und menschlichen Körpern und unbekannten Formen beeindrucken. Dass alle diese archaisierenden Elemente nur noch wie aus dem Kontext gebrochene Fragmente in die Gegenwart ragen, sozusagen Ruinen einer sich selbst fremd gewordenen Geschichte, deuten die eingespielten Bilder von Atombombentests in der Südsee an. „Paradise“ ist die Besichtigung eines Ortes der Trauer und Zerstörung.

Die Vorstellung ist beklemmend. Nicht nur, weil Stacheldraht über der Szene hängt. Nicht nur, weil die Kreaturen, die aus dem langen Dunkel auf der Bühne oft nur für kurze Zeit auftauchen, so unglücklich wirken. Sondern mehr noch, weil alle Bilder mit einem Bedeutungsgehalt aufgeladen sind, der sich nicht preisgibt. Man fühlt sich bedrängt, aufgefordert zu einer Haltung und tappt doch im Dunkeln in Ermangelung von Referenzen.

Ganz anders als dieses fast schon sakral überhöhte Bild des Anderen verblüffte dagegen ein Stück aus Japan „A house with a big tree“, gerade weil seine Form so gar nicht aus dem Rahmen der Theaterkonvention fiel. Eine alltägliche Geschichte wurde erzählt, mit viel Witz, Absurditäten und Mitgefühl, vom Zerbrechen der Kette der Generationen, vom Verlust der Vergangenheit und der Heimatlosigkeit in der modernen Welt. Man kennt solche Geschichten aus vielen Romanen und Filmen aus Japan oder Taiwan. Nur als Dialogtheater kennt man das noch nicht. Tatsächlich hat Marie Zimmermann diese Produktion eingeladen, weil sie quer zum Bild des japanischen Theaters mit seinen hoch stilisierten Formen von No und Kabuki steht. Dass diese so vertraut und etwas bieder wirkende Inszenierung eine Ausnahme ist, ein regionales Autorentheater, das sich jenseits des japanischen Mainstreams in der Provinz entfaltet, erstaunt. Dass Laien dieses Theater vor fast 30 Jahren gegründet und immer weiter in die Professionalisierung getrieben haben, noch mehr. Und trotzdem ist die Anerkennung, die man dem Stück nach all diesen Informationen entgegenbringt, zwiespältig.

Jenseits des Schutzraumes, den solche Produktionen als weitgereiste Gäste genießen, zeigte das Festival zwei Premieren des Staatstheaters Stuttgart („Virus“) und des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg („Faces“). Mit den beiden Stücken wollte Stuttgart auch ein wenig den Intendanten des Staatstheaters Friedrich Schirmer feiern, der eben nach Hamburg wechselt und sozusagen seine letzte Premiere im alten und die erste im neuen Haus nebeneinander stellte. Zudem ist Schirmer auch der Ehemann von Marie Zimmermann. Vielleicht ist all das zusammen ein bisschen viel Grund zum Feiern. Beide Inszenierungen zeichneten sich jedenfalls mehr durch ein ambitioniertes Konzept als eine gelungene Umsetzung aus, und das ist eigentlich eher untypisch für die Arbeit dieses Intendanten.

In „Virus“ hat der Regisseur Sebastian Nübling, der sonst oft leichtfüßig und verspielt melancholisch ansetzt, eine Materialsammlung zum Thema Virus mit dem antiken Stoff der „Bakchen“ zu verknüpfen versucht. Seine Schauspieler werden dabei immer mehr zu Akteuren eines Tanztheaters, die das Motiv der Infektion gruppendynamisch visualisieren. Das ist zwar manchmal komisch und auch überraschend in einer surrealen Bildhaftigkeit. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Thema, die über seine inflationäre Verbreitung im Sprachgebrauch hinausginge, aber fällt aus. Das ist vor allem auch deswegen bedauerlich, weil die Geschichte der Viren nicht nur als Metapher, sondern vor allem in ihren realen Verbreitung eine der erschreckenden Kehrseiten der Globalisierung erzählt und als solche auch zum Programm des Festivals gehörte.

Die besten Überraschungen gelangen dem Festival gerade da, wo man nicht so viel erwartete, etwa bei einer Performance im Krankenhaus für Kinder durch die englische Gruppe theatre-rites oder in der „Peasantopera“, einer wirklichen Bauernoper, aus Ungarn. Da wurde man auch, wenn man sich noch nie für ungarische Volksmusik interessiert hat und hinter Bauerntheater eher anbiedernd Schwankhaftes vermutet, mitgerissen: wie böse der Witz in den Texten der Libretti funkelt, wie raffiniert sich Volkslieder mit barocken Formen verbünden, und wie im Anekdotischen plötzlich die abgründige Grausamkeit, zu der der Mensch gebracht werden kann, aufleuchtet. Da gab es überall genügend Anknüpfungspunkte an bekannte Formen, um die Transformationen und inhaltlichen Wendungen nachzuvollziehen.

„Das kommt ja auch aus Europa“, erklärt Marie Zimmermann diese leichte Zugänglichkeit. Theater der Welt, das diesmal über drei Wochen lang, bis 10. Juli spielt, will aber gerade mehr als Europa und tut sich damit doch ganz schön schwer.