In der Blase der Illusionen

Diese Stadt mag dich: Berlin ist billig, heimelig und beliebt, allem Eingebildetsein zum Trotz. Dutzende von internationalen Musikern zogen in letzter Zeit hierher. In London werden deshalb Electro-Nächte schon mal „Blame it on Berlin“ betitelt

Nun ist die Schublade elektronischer Musik in Berlin längst zur Schrankwand mit vielen Türchen gewachsen

VON THOMAS WINKLER

Die eine wusste nicht wohin, der andere fühlte sich sofort zu Hause. Einer kam aus wirtschaftlichen Gründen, ein anderer wegen des Mythos. Einer folgte den Spuren der Liebe, ein anderer seinen musikalischen Vorbildern. Es gibt viele Wege, aber alle führen nach Berlin: Hunderte von Musikern sind in den letzten Jahren in die Hauptstadt gezogen. Berlin ist wieder eine Wolke.

In den Siebziger- und Achtzigerjahren kamen die prominenten Musiker wie Lou Reed, David Bowie oder Nick Cave, heute kommen die Massen. Berlin ist Fluchtpunkt geworden für Musiker aus allen Himmelsrichtungen: Jay Haze, Kevin Blechdom, Stewart Walker, Jason Forrest, Daniel Wang, Andrew Pekler, Dan Bell und The Human Elephant aus den USA, Anne Laplantine aus Frankreich, Jake Fairley und Richie Hawtin, Peaches, Gonzales und Mocky aus Kanada, Vladislav Delay aus Finnland, Jamie Lidell und Richard Davis aus Großbritannien, Touane aus Italien, Guy Sternberg aus Israel, Erlend Oye und Kim Hiorthøy aus Norwegen, Miss Kittin und Mia Aegerter aus der Schweiz. Matthew Curry alias Safety Scissors ist schon wieder weg, zurück nach San Francisco, Múm leben zwischen Berlin, Reykjavík und Prag. Goldfrapp sollen die Songs für ihr demnächst erscheinendes Album in Berlin geschrieben haben. Und erst vor einigen Wochen zog Tim Gane von Stereolab samt Familie hierher, und Gordon Raphael, der Produzent der Strokes, hat vor Monaten bereits New York verlassen und treibt sich nun durch die Berliner Rock-Clubs. Selbst Marylin Manson hat nun eine Wohnung in der deutschen Hauptstadt gemietet.

Niemals zuvor übte Berlin solch eine Anziehungskraft auf internationale Musikschaffende aus. Und das, obwohl die Traditionslinie aus Reed, Bowie und Cave unterbrochen und der Mauerstadtmythos aus Absturz im Hinterhof und Existenzialismus ohne Sperrstunde nur mehr matte Erinnerung ist. Heute gilt Berlin in der Fremde vor allem als Stadt des Techno, als Heimat der Love Parade, als Ort, wo Plattenfirmen wie Tresor oder Basic Channel elektronische Traditionen wahren, andere wie Scape oder Bpitch Control die Errungenschaften des Dancefloors vorantreiben oder Labels wie Morr Music und Kitty-Yo weiter die Randbereiche zwischen Song und Track erforschen. In London werden Electro-Nächte schon mal „Blame it on Berlin“ betitelt. Dieses Image ist es, das vornehmlich Künstler aus der elektronischen Musik anzieht.

Nun ist die Schublade „elektronische Musik“ allerdings längst zur gewaltigen Schrankwand gewachsen, und in Berlin kann man alle Türchen aufmachen. Das reicht vom epochalen sowohl Monsterrock wie Breitwanddisco der Siebziger zitierenden Prog-Pop auf der neuen EP „Lady Fantasy“ von Jason Forrest über den so verträumten wie geradeaus programmierten Techno auf Richard Davis’ neuem Album „Details“ und die so stahlblau wie plüschigen Tracks von Stewart Walker auf „Grounded In Existence“ bis zu Kevin Blechdoms fantasievollen und hochkomplexen Songkonstruktionen. Ja selbst der Soul eines Jay Haze hat mit dem Soul eines Jamie Lidell nicht mehr viel gemein: Wo Lidell sein zum Großteil akustisch eingespieltes Album „Multiply“ durchaus als Reminiszenz und Ehrerbietung an die goldenen Tage des Soul versteht, entwirft Haze auf „Love for a Strange World“ eine auf Minimal Techno beruhende, in eine beunruhigende Zukunft weisende Version des Genres.

Haze scheint auch der einzige Exilant, der sich weitgehend heraushält aus den Netzwerken und an der heimeligen Hauptstadtstimmung kratzt. Erfolgreich stilisiert sich Haze mit White-Trash-Vergangenheit in Pennsylvania und rüpelhaften Interviews zum Punkproleten des elektronischen Berlin, eine Rolle, die seit dem Abgang von Alec Empire nach London vakant geworden war. Der Rest der Exilanten aber freut sich, ein beschauliches Leben ohne dramatische finanzielle Probleme zu führen, denn das wichtigste Argument für Berlin dieser Tage ist nun mal: Es ist die billigste Metropole weltweit.

Am Wochenende geht’s per Flugzeug zu einem DJ-Auftrag irgendwo in der weiten Welt, unter der Woche schraubt man an den eigenen Tracks oder trifft sich zum Gedankenaustausch mit Gleichgesinnten. „Man kann aufstehen, wann man will, nachts um zwölf oder mittags um zwölf noch in einem Café frühstücken, Künstler sein, eine bezahlbare Wohnung haben und vielleicht sogar auch noch ein Atelier“, beschreibt Lidell, der bereits 2000 aus Brighton nach Berlin kam, die paradiesischen Zustände für die Kreativen, „das ist Luxus. Du kannst in einer Blase aus Illusionen leben und in Berlin trotzdem überleben. Versuch das mal in London oder Paris.“

So ist denn auch zu erklären, dass sich Kim Hiorthøy von einem Kunststipendium jahrelang zwei Wohnungen leisten konnte: in Oslo und in Kreuzberg. Und Marco Tonhi alias Touane kann im Gegensatz zu Bologna, wo er „alles gemacht hat vom Pizzalieferanten bis zum Fabrikarbeiter“, von der Musik leben, seitdem er vor einem Jahr nach Berlin kam. In Deutschlands Hauptstadt, über den genauen Betrag sind sich alle Befragten seltsam einig, reichen ungefähr 1.000 Euro zum Überleben, und selbst das, sagt der seit zwei Jahren in Mitte lebende Stewart Walker, „ist immer noch extravagant. Man kann auch mit weniger klarkommen.“ In Bologna, so Touane, müsste es dagegen das Doppelte sein, in San Francisco, so die von dort stammende Kevin Blechdom, gar das Dreifache.

In den USA, sagt Walker, wäre nicht nur das Leben entschieden teurer, vor allem sind auch die Einkommensmöglichkeiten für DJs und Produzenten in den letzten Jahren immer weiter eingeschränkt worden, weil „die Dancekultur zerstört“ wurde. Clubs werden mit Ausschanklizenzen und Drogenrazzien gegängelt und schließen. In der Folge fehlen Auftrittsmöglichkeiten, und DJs können sich die Platten nicht mehr leisten, die Produzenten wie Walker auf Kleinstlabels herausbringen. „Mach Bush dafür verantwortlich, wenn du willst“, sagt Walker, „aber Tatsache ist: Ich habe meine Einkommensgrundlage verloren.“ Also hat der 30-Jährige, der sich als „Unternehmer“ sieht, die Standortfrage zugunsten Berlins entschieden. Eine Karriereentscheidung, die auch Touane nicht bereut: „In Berlin selbst ist es schwierig, Gigs zu bekommen, weil es so viele Musiker hier gibt. Aber wenn man in Berlin lebt, hat das sofort eine coole Aura. Seit ich hier bin, bekomme ich in Italien viel leichter Jobs.“

Auf die Vertriebenen wartet in Berlin ein mittlerweile recht gut funktionierendes Netzwerk. Das ist nötig, meint die seit 2003 in Kreuzberg lebende Blechdom, „denn jeder ist herausgerissen aus seiner gewohnten Umgebung“. Um in der neuen Umgebung anzukommen, muss man nicht einmal der deutschen Sprache mächtig sein. Walker nimmt Deutschkurse beim Goethe-Institut, aber selbst Künstler wie Lidell oder Peaches, die schon seit Jahren hier leben, beherrschen kaum mehr als einige Brocken. Also, so Blechdom, „leiht man sich gegenseitig Geld, diskutiert miteinander, vertraut sich“ unter den Exilanten. Walker wurde vom Kollegen Guy Sternberg unterstützt, als er sich bei der Künstlersozialkasse anmeldete, und begleitete im Gegenzug Jeremy Caulfield zur Ausländerbehörde. Aber man hilft sich nicht nur gegenseitig durch den bundesdeutschen Bürokratiedschungel, man unterstützt sich auch musikalisch.

Und selbst der DJ und Produzent, dessen Welt auf eine Festplatte passt und dessen Schaffenskraft sich prima per Telefonleitung und internationalen Flugverkehr kanalisieren lässt, braucht halt doch hin und wieder menschliche Ansprache in seiner Muttersprache. „Ich dachte einmal, man könnte Musik überall machen“, lächelt Walker durch seinen gemütlichen Vollbart, „aber ich habe gelernt: Es ist kalt da draußen. Man braucht andere Menschen, sonst weiß man nicht, ob die eigene Musik was taugt.“ Gut vernetzte Musikszenen gibt es auch andernorts, nur: Diese Städte sind schon lange nicht mehr so gemütlich wie Berlin. Selbst Prag wurde schon vor mehr als zehn Jahren von Exilamerikanern entdeckt.

Der aus Boston stammende Walker glaubt, „Berlin ist viel kollegialer als New York. In Berlin ist jeder damit beschäftigt, seine Musik möglichst gut hinzukriegen, anstatt die der anderen runterzumachen. Es ist eine magische Zeit. Aber ich weiß nicht, wie lange das noch anhalten wird.“ Noch „benehmen sich die Musiker hier nicht wie Stars“, hat Touane festgestellt, aber das kann sich schnell ändern, wenn der Zuzug weiter anhält und die Konkurrenzsituation sich weiter verschärft. Wenn Walker alten Bekannten aus den Staaten rät, doch auch nach Berlin zu kommen, winken die mittlerweile ab: „Berlin ist nicht mehr cool, sagen die, da geht doch jetzt jeder hin.“

Lidell hat ähnliche Beobachtungen gemacht. Er geht weniger aus als früher, sagt er, und findet: „In letzter Zeit scheint Berlin ein bisschen eingebildet zu werden, es gibt viel mehr Snobismus. Meiner Meinung nach haben wir hier bald dieselben Probleme wie in anderen Metropolen.“ Andererseits: Ein bisschen mehr Wettbewerb kann der Stadt auch nicht schaden, meint Walker: „Das Berlin, so wie wir es heute kennen, ist doch erst 15 Jahre alt. Und es wird noch einmal 20 Jahre dauern, bis es sich mit London oder Paris messen kann.“

Lidell hat für sein großartiges Album, auf dem sich seine Vokalakrobatik erstmals aus der Nische emanzipiert, die er als eine Hälfte von Super_Collider definieren half, einen Song namens „The City“ geschrieben. „The city don’t like you/ It never did“, singt er. Es ist ein verzweifelter Song, ein Song über Berlin, sagt Lidell. Und dann auch wieder nicht: „Alles war Mist, ich war arm und es war kalt, aber es war eigentlich meine eigene Schuld, und ich habe meine schlechte Laune an der Stadt ausgelassen. Ich nehme hiermit also alles zurück. Eigentlich ist Berlin eine prima Stadt.“

Kevin Blechom: „Eat My Heart Out“ (Chicks in Speed/Indigo); Stewart Walker: „Grounded in Existence“ (Persona/Alive); Jamie Lidell: „Multiply“ (Warp/Rough Trade); Touane: „Awake“ (Persona/Alive); Richard Davis: „Details“ (Kitty-Yo); Jason Forrest: „Lady Fantasy EP“ (Sonig/Rough Trade); Jay Haze: „Love for a Strange World“ (Kitty-Yo/Rough Trade)