Im Kreuzverhör der Mütter

AUS WLADIKAWKAS KLAUS-HELGE DONATH

Ein Absperrgitter markiert die Zufahrt, aber die beiden jungen Polizisten unterhalten sich angeregt und lassen nur flüchtige Blicke über die Ausweise der Passanten streifen. Freundlich, kein bisschen misstrauisch. Untypisch in Russland. Ungewöhnlich vor allem aber für das Ereignis, das hinter der Absperrung stattfindet. Denn hier im Zentrum der nordossetischen Hauptstadt Wladikawkas wird kein Straßenfest überwacht. Die Polizisten sichern den Prozess gegen Nurpaschi Kulajew vor dem Obersten Gericht der Kaukasusrepublik. Kulajew ist 24 Jahre und hat Tischler gelernt. Und er gehörte zu den Tschetschenen, die im vergangenen September, direkt nach den Sommerferien, in die Schule Nummer 1 der Kleinstadt Beslan kamen und 1.128 Geiseln nahmen. Er ist nach offizieller Darstellung der einzige Terrorist, der überlebte, als russische Sicherheitskräfte die Schule stürmten und 330 Menschen starben.

Kulajew sitzt seit dem 17. Mai regelmäßig in einem Käfig mit weiß lackierten Gitterstäben, die Hände auf dem Rücken gefesselt. In den ersten Prozesswochen hat er den Eindruck gemacht, als folge er der Verhandlung kaum. Selten sagte er etwas zu seiner Verteidigung, sodass man manchmal meinen konnte, ihm sei die lebenslange Haftstrafe lieber als die Rache der Angehörigen seiner Opfer. Denn die Mütter der getöteten Schulkinder drohten, ihn zu lynchen. „Ich will leben, ich habe niemanden getötet“, sagte Kulajew hin und wieder. Mehr nicht.

Putin reagiert nicht

Trauer, Zorn und Rachegefühle der Angehörigen – der Staatsanwältin kam das durchaus gelegen. Es stützte ihre Anklage, ohne dass die Umstände der Erstürmung der Schule allzu gründlich untersucht werden mussten. Doch der Vorsitzende Richter Tamerlan Agusarow wich von der üblichen Praxis ab und räumte den Opfern im Saal Fragerecht ein. Anfang Juni haben die Mütter ihre Taktik geändert. Sie wollen erfahren, warum ihre Kinder sterben mussten und wie sie zu Tode gekommen sind. Wer ist schuld? Nur die Terroristen oder auch die Politiker, Geheimdienstleute und Militärs. Bisher hat Präsident Wladimir Putin ihre Briefe ignoriert, durch den Prozess können sie sich Gehör verschaffen.

„Wir trauen weder den Politikern noch den Ermittlungsbehörden“, sagt Susanna Dudijewa. Die Vorsitzende des Komitees der Mütter von Beslan hat einen Sohn in der Schule verloren. Dudijewa hat den Angeklagten aufgefordert, er solle sagen, was er wisse. Im Gegenzug wolle sie sich für eine mildere Strafe einsetzen. „Wir mussten mit Kulajew anders reden“, sagt sie. „Er ist der einzige, der weiß, was dort wirklich passiert ist.“

Dudijewas Ansprache im Gerichtsaal bewirkte eine Art Verwandlung des Angeklagten. Er erzählte, und was er sagte, widersprach der offiziellen Version der Ereignisse. Demnach musste der Überfall sorgfältig vorbereitet gewesen sein. Waffen erhielten die Terroristen, die über ein riesiges Arsenal verfügten, angeblich erst in der Schule. Sie müssen vorher deponiert worden sein, was die Bürger von Beslan seit langem vermuten. Sollte den Sicherheitsorganen im nun schon seit Jahren von Gewalt und Terror heimgesuchten Kaukasus dies entgangen sein ? Immerhin 13 schwere Terroranschläge in den letzten vier Jahren hat es in Nordossetien gegeben. Die offizielle Ermittlung beharrt darauf, die Terroristen seien mit den Waffen angerückt. Sollten 32 Geiselnehmer mit voller Munitionierung, darunter Granatwerfer und Sprengsätze, in einem Auto der Marke Gazelle 66 Platz gefunden haben, der etwas größer ist als ein VW-Transporter?

Keine weiteren Fragen

Ende Juni, der 10. Verhandlungstag. Der Zeuge Boris Artschinow sagt aus. An jenem Morgen saß er im Auto vor der Schule. Die Terroristen zerrten ihn aus dem Wagen und schleppten ihn in die Schule. Er hat zwei Söhne und seine Frau verloren. Nun berichtet er, wie er die Ankunft des Todestrupps zunächst vom Auto aus beobachtet hat. Hat er auf der Ladefläche Munitionskisten gesehen? Weder die Staatsanwältin Maria Semisynowa mit ihrer grauen Uniform und ihrer resoluten Stimme fragt nach noch Kalujews Pflichtverteidiger, der 25 Jahre alte Albert Plijew. Auch nicht, als Artschinow erzählt, er habe nur 12 bis 15 Geiselnehmer von der Pritsche springen sehen.

Die Staatsanwältin will nicht von der amtlichen Version abweichen. Und Plijew möchte sich anscheinend nicht noch unbeliebter machen. Kein anderer Anwalt in Nordossetien war bereit, die Verteidigung des Tschetschenen zu übernehmen. Der unerfahrene Hochschulabsolvent wurde mehr oder weniger zwangsverpflichtet. Jetzt muss er zwischen den Gefühlen der Nordosseten und dem Vertuschungsinteresse der Staatsmacht jonglieren. Kein einfacher Job, der ihn so oder so die Karriere kosten kann. Plijew wirkt unsicher. Die Mütter überlegen jetzt sogar, dem Angeklagten einen neuen Anwalt zu stellen.

Kulajew ist inzwischen wieder schweigsam. Dass er in der Haft geschlagen wird, hatte er schon erzählt. Nachdem er das Teilgeständnis widerrief und die Strategie der Anklage zu Fall brachte, sei er wohl wieder kräftig „bearbeitet“ worden, meinen die Mütter. Die Sorge um den Terroristen provozierte die Staatsanwältin zum zynischen Einwurf, nun sei aus dem Angeklagten ja ein Opfer geworden. Die Frauen befürchten, Kulajew könnte in der Haft eines plötzlichen Herztodes sterben oder eine Treppe hinunterstürzen. Das wäre in der russischen Justiz nichts Neues.

Er sei doch ohnehin schon eine „lebende Leiche“ und solle daher mit der Wahrheit herausrücken, meinte der Zeuge Wiktor Alikow aufgewühlt. „Wie ich es satt habe, dass man uns ständig belügt. Damals, am 1. September, haben sie behauptet, es seien nur 150 Geiseln, mit diesen Lügen machen sie weiter“. Mit „sie“ meint er die staatlichen Stellen. Alikow will gesehen haben, wie Panzer schon einen Tag vor dem Sturm in Stellung gingen. Gleich nach der Explosion in der Turnhalle habe er beobachtet, wie die Panzer das Feuer auf die Schule eröffneten, in der noch alle Geiseln saßen.

Die Explosion in der Turnhalle ist ein entscheidender Punkt bei der Rekonstruktion der Ereignisse. Unstrittig ist, dass es in der Halle einen Zündmechanismus gab, der mit mehreren Sprengsätzen verbunden war und den ein Terrorist mit einem Pedal auslösen konnte. Die Behörden behaupten, die Sprengsätze seien hochgegangen, weil Hitze und Feuchtigkeit Klebeband lösten. Die andere Version ist, dass ein Scharfschütze den Terroristen am Zündmechanismus tötete, der dann die Explosion auslöste – und damit die Stürmung der Schule.

Kulajew sagte, der Kopf des Todeskommandos Ruslan Chutschbarow habe gesagt, als er den toten Terroristen am Pedal sah: „Ein Scharfschütze hat ihn umgelegt.“ Überlebende berichten, die Geiselnehmer seien daraufhin in Panik geraten. Sind die unbedachten Befreier mit verantwortlich für die Katastrophe von Beslan?

Neben dem Prozess gibt es auch zwei Untersuchungskommissionen, die diese Frage beantworten sollen. Ein Ausschuss der vom Kreml ferngesteuerten Duma. Eigentlich sollte der Bericht des Gremiums schon im März veröffentlicht werden, nun soll er im Oktober erscheinen. Eine zweite, unabhängige Untersuchung leitet Stanislaw Kesajew, der Vizevorsitzende des nordossetischen Republikparlaments. Seinem Ausschuss gehören nur lokale Vertreter an. Er hat aber nicht die Kompetenz, ranghohe Staatsdiener wie den Geheimdienstchef oder den Innenminister Russlands zu befragen. Kesajews Einsichten reichen indes für ein vernichtendes Urteil. Alle Sicherheitsstrukturen hätten kläglich versagt, niemand wolle Verantwortung übernehmen. Wie damals, am 1. September, als 30 Stunden verstrichen, bis der Kreml einen Leiter des Antiterrorstabes ernannte. Einen Subalternen aus Wladikawkas, Moskaus Feldherrn hatten die Hosen voll.

Der Geisel Wladimir Daurow gelang es noch am ersten Tag gegen Mittag, aus der Schule zu fliehen. Der Zeuge macht vor Gericht genaue Angaben, er verfügt über ein fotografisches Gedächtnis. Bevor er floh, hatte er sich alles genau eingeprägt. Vor der Schule trifft er den Parlamentsvorsitzenden Mamsurow und den damaligen Innenminister Dsantiew und sagt ihnen, dass nicht 150 Geiseln, wie es die Behörden behaupten, in der Schule säßen. Nein, es sind über 1.000! Daurow hätte einem Antiterrorkommando in diesem Moment noch nützliche Hinweise geben können. Doch er wird weder an diesem Tag noch später gehört, während die staatlichen Medien die Nachricht von 150 Geiseln weiter verbreiten. Unfähigkeit, Angst, eiskalte Berechnung?

Auch hier hakt die Staatsanwältin nicht nach. Dass die Moskauer Kommission die Erkenntnisse zurückhält, hat politische Gründe. Konsequenzen müssten gezogen und der Krieg in Tschetschenien beendet werden, meint Kesajew. Das rührt an die Substanz von Putins Regime.

Turnhalle unter Beschuss

Die Mütter sind jedoch entschlossen, die Wahrheit zu erzwingen. Sind ihre Kinder gestorben, weil das Dach der Turnhalle von außen mit Granat- und Flammenwerfern beschossen wurde und auf sie hinabstürzte? Sind die Kinder bei lebendigem Leib verbrannt? Granatwerfer und Hülsen fanden Anwohner später und übergaben sie den Ermittlern. Die ersten Funde verschwanden oder ihre Nummern wurden unkenntlich gemacht.

Was macht es für einen Unterschied, ob ihr Sohn nun an einer Schusswunde gestorben oder verbrannt ist? Diese Frage bekam Eima Bitrosowa von Mitarbeitern der Gerichtsmedizin zu hören, als sie einen korrekten Totenschein verlangte. Für die in wenigen Monaten um Jahrzehnte gealterten Mütter bedeutet die Wahrheit alles. „Wir können unseren überlebenden Kindern nicht mehr die Liebe geben, die sie verlangen. Wir sind wie tot“, sagt Susanna Dudijewa, die Chefin des Mütter-Komitees.

Der Prozess nimmt eine brisante Dimension an. Daher haben die Frauen letzte Woche einen neuen Anwalt als Vertreter der Nebenklage engagiert. Taimurasa Tschedschemow, der einmal Chef des ossetischen Verfassungsgerichts war, jedoch wegen Unbotmäßigkeit gegenüber den Mächtigen seinen Posten verloren hat. Der Jurist verspricht, den Fall aufzumischen.

Vielleicht hilft das auch dem Angeklagten Kulajew. Sein Bruder habe ihn zum Mitgehen gezwungen, hat er erklärt. Ohne ihm zu sagen, was das Kommando vorhatte. Drei Zeugen haben ihn bislang wiedererkannt. Nicht einer sah ihn bewaffnet. Selbst in Beslan glauben immer mehr, dass er die Wahrheit sagt.