bewegung und politik
: An einem Wendepunkt

Der Unmut im Land wächst. Umfragen sehen die sich bildende Linkspartei mit mehr als 10 Prozent im nächsten Bundestag. Der politisch-mediale Komplex reagiert fassungslos bis hysterisch mit „Oskar Haider“ (Die Zeit), „weder links noch neu“ (Berliner Zeitung), dem Verfassungsschutz oder Bildschirmverbot für einen „Tatort“-Kommissar wegen politischer „Schleichwerbung“. Gysi und Lafontaine gelten als Schreckgespenster der Nation. Ausgerechnet.

KOMMENTAR VON ARNOLD SCHÖLZEL

Bevor das neue Linksbündnis existiert, erzeugt es Panik. Das kann sich nur steigern – der Wut unten entspricht die Nervosität oben. Frankreich und die Niederlande lassen grüßen. Es wackeln keine Stühle, und die Verhältnisse tanzen nicht, aber der bundesdeutsche Lack aus selbstgerechtem „Freiheit und Demokratie“-Geplärre und Wirtschaftswundergrößenwahn ist ab, es zeigen sich Risse im Gefüge. Das so genannte Führungspersonal in Wirtschaft und Politik verkleinert systematisch seine Basis.

Schröders Mitteilung, Neuwahlen anzustreben, hat einen Prozess in Gang gesetzt, der nicht nur ihm aus dem Ruder läuft. Die sozialen Bewegungen der letzten Jahre, die 100.000 Protestierenden am 1. November 2003 in Berlin, die Montagsdemonstrationen, die Aktionen gegen Hartz IV und die Kundgebungen in Berlin am 2. und 3. Oktober 2004 haben die Welle der Zustimmung für die neue Partei vorbereitet – obwohl sie regelmäßig von den Großmedien beerdigt wurden.

Das Zustandekommen des Linksbündnisses ist nicht Resultat des Drucks, der vom vorfristigen Wahltermin ausgeht, sondern Ergebnis eines offiziell verdrängten Vorgangs. Wo im Jargon der neoliberalen Propagandaakteure von „Verlierern“ die Rede ist, handelt es sich längst um einen sozialen Problemstau größten Ausmaßes. Seit der Kapitalismus 1990 ff. zu seiner Normalform zurückgefunden hat, zeigt sich, dass er die sozialen Folgen seiner Existenz auf dem Niveau des 19. Jahrhunderts abhandeln möchte. Nach 15 Jahren ist die Zeit reif, das nicht mehr widerstandslos hinzunehmen. Ob dies gelingt, hängt nicht in erster Linie vom Einzug der Linkspartei in den Bundestag ab, sondern davon, ob sich die sozialen Bewegungen vernetzen, verbreitern und ständig präsent sind. Das erste deutsche Sozialforum kann ein Wendepunkt sein.

Arnold Schölzel ist Chefredakteur der Tageszeitung junge Welt