Wer im Netz die Macht hat

VON DIETER GRÖNLING

Als im Sommer 2000 die Direktoren der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (Icann) gewählt wurden, war die Begeisterung groß. Es waren die ersten weltweit durchgeführten freien Internetwahlen – und alle, die sich auf der Icann-Website angemeldet hatten, konnten daran teilnehmen. Es herrschte immer noch Aufbruchstimmung, alle träumten vom elektronischen Paradies mit unendlich großen kunterbunten Kommunikationsräumen, in denen sich alle nach Herzenslust bedienen und stets auch etwas hineinstellen konnten.

Von den deutschen Kandidaten konnte sich Andy Müller-Maguhn vom Chaos Computer Club (CCC) mit deutlicher Mehrheit gegen viele Schlipsträger durchsetzen, und allein das war schon Grund zur Freude. Dennoch waren längst nicht alle von der Notwendigkeit einer Internetregierung überzeugt. Wozu sollte das Netz regiert werden, ganz sicher ist es ja kein Einbahnstraßenmedium, wo es Sender und Empfänger, Regierung und Regierte gibt.

Doch Zweifler wurden beschwichtigt. Schließlich war die Icann nur für die Vergabe von Internetadressen und IP-Nummern zuständig. Und Andy Müller-Maguhns Regierungserklärung gehörte zum Schönsten, was das Netz in jener Zeit zu bieten hatte. Dann hat er den Job drei Jahre gemacht – bis die fünf von den Nutzern gewählten Direktoren (pro Kontinent einer) aus dem Amt geworfen wurden. Auch die direkten Wahlen hat die Icann abgeschafft und durch ein von Teilen des Vorstands gewähltes Wahlkomitee ersetzt. Andy Müller-Maguhn nannte diese Aktion „Inzucht deluxe“ – und verabschiedete sich.

Scheindemokratie

Wirklich verwunderlich ist das Vorgehen jedoch nicht. Was die Wähler nicht wussten oder in der anfänglichen Euphorie vielleicht einfach nicht mitbekommen haben: Die Icann war zu keinem Zeitpunkt so etwas wie eine autonome Internetregierung mit demokratischen Strukturen.

Sie war und ist bis heute einfach eine Firma nach kalifornischem Recht und darauf ausgerichtet, mit den Gebühren für Domain-Namen und Internetadressen Geld zu verdienen bzw. Lizenzgebühren von Firmen zu erheben, die ihrerseits Adressen vergeben. Die mit viel Rummel durchgeführten Wahlen waren eine Idee der Berater des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton.

Der verkündete seinerzeit immerhin, dass er die Macht des US-Handelsministeriums über die zentralen Root-Server aufgeben wolle. Technisch geht es dabei um 13 Computer, die mit ihren Zentralregistern den Web-Browsern und E-Mail-Programmen mitteilen, wo sie Anfragen hinleiten sollen.

Alle Internetnutzer haben täglich mit diesen „Master directories“ zu tun. Eine Entscheidung der für diese Register verantwortlichen Organisation kann zum Beispiel dazu führen, dass Webseiten mit bestimmten Endungen nicht mehr aufgerufen werden können. So könnte die US-Regierung rein theoretisch auch Kennungen wie .de oder .fr und damit ganze Länder einfach vom Netz aussperren.

Bei George W. Bush war deshalb auch noch nie die Rede davon, zumindest einen Teil der Kontrolle über das Netz aus der Hand zu geben. Im Gegenteil: Anfang Juli, also nur wenige Tage vor dem Zusammentreffen der UNO-Arbeitsgruppe zur Netzverwaltung (Working Group of Internet Governance, WGIG) in Genf, erklärte der Abteilungsleiter für Kommunikation und Information im US-Wirtschaftsministerium, Michael Gallagher, in einem AP-Interview, dass die US-Regierung auf unbestimmte Zeit die Kontrolle über den Internetverkehr behalten wolle. Seine Erklärung nannte Gallagher ein „Fundament für die aktuelle US-Politik“. Entscheidend für die Haltung seien Sicherheitsaspekte in einem Zeitalter, in dem das Internet als Kommunikations- und Wirtschaftsmittel immer wichtiger werde. Die USA würden eine „andauernde Verantwortung“ wahrnehmen, betonte er.

Die starke US-Dominanz in Internetdingen aller Art war von Anfang an Programm der Bush-Administration, so wurde bereits auf der Icann-Jahrestagung im Dezember 2001 eine Reform verabschiedet, die den Einfluss der Regierungen zu Lasten der weltweiten Nutzergemeinde stärkte. Selbstverständlich unter Führung und mit Vetorecht der USA.

Viele Staaten, darunter Brasilien, China, Indien, Südafrika und Saudi-Arabien, sind jedoch seit langem mit der Arbeit der kalifornischen Icann unzufrieden. Sie wollen selbst mehr Kontrolle über das Netz und sehen zudem ihre Interessen nur ungenügend berücksichtigt.

Sie argumentieren, das Internet müsse auf internationaler Ebene einer unabhängigen UN-Organisation wie der International Telecommunications Union (ITU) unterstehen – der UN-Organisation, die für die Abstimmung von Telekommunikationsfragen zwischen den UN-Staaten zuständig ist. Eine Einigung ist indes nicht in Sicht. Die US-Regierung und selbst die EU-Kommission in Brüssel plädieren vehement für eine Beibehaltung der Icann.

Doch inzwischen streiten sich auch die Vereinten Nationen mit den USA über die Macht im Internet. Das wird zwar so nicht an die ganz große Glocke gehängt, und es herrscht weitgehend Uneinigkeit über das weitere Vorgehen. Die vierzigköpfige UN-Arbeitsgruppe präsentierte in Genf dann auch gleich vier Vorschläge, die sich gegenseitig ausschließen. Mal mit, mal ohne Icann; mal mit kontrollierter Icann, und mal wollten die indischen und brasilianischen Regierungsvertreter, dass NGOs und Wirtschaft die weiteren Verhandlungen zur künftigen Internetverwaltung den Regierungen überlassen, weil den privaten Experten jegliche Legitimation fehle, die Öffentlichkeit zu vertreten.

Dabei hatte Kofi Annan himself die Gruppe zusammengestellt. Mit dabei: Mitglieder aus Regierungen, der Internetindustrie und NGOs. Sie sollten die Pluralität der Akteure und Standpunkte beispielhaft verkörpern. Trotz allen Streitereien und unterschiedlichen Auffassungen konnte sich die Gruppe unter Leitung des indischen Diplomaten Nitin Desai dennoch auf einige Punkte einigen. Wichtigster Beschluss: die Schaffung eines neuen internationalen Forums für Netzpolitik. Doch dafür steht bislang kein Geld zur Verfügung.

Der Genfer Arbeitsgruppe ging es ursprünglich um weit mehr als die bloße Vergabe von Internetadressen. Auch Meinungsfreiheit, Datenschutz und vor allem die Bekämpfung von Online-Kriminalität standen auf dem Plan.

Nach Westsamoa gelockt

Wenig Konkretes auch hierzu, und am Ende zeigte sich der australische Regierungsvertreter enttäuscht, dass die Arbeitsgruppe keine konkreteren Vorschläge zum Thema Spam vorgelegt hat. Dabei sind genau das die Problemfelder, zu denen dringend internationale Lösungen gefunden werden müssen. Ein Nutzer, der mit einem üblen Phishing-Trick auf eine gefälschte Postbank-Webseite auf einen Server in Westsamoa gelockt wird, um ihm seine Login-Daten für den Zugriff auf sein Konto zu entlocken, hat mit den üblichen Offline-Mitteln wie Polizei und Justiz kaum eine Chance. Es nutzt ihm auch wenig, dass die Icann auf Geheiß der US-Regierung inzwischen von den nationalen Adressvergabe-Organisationen die Preisgabe der persönlichen Daten von allen verlangt, die eine Internetadresse anmelden.

Doch die UN bleibt am Ball, schließlich sollen für alle Bereiche und Problemfelder wirksame und dauerhafte Lösungen gefunden werden. Das Abschlusspapier und die Ergebnisse der Working Group on Internet Governance sollen als Grundlage beim zweiten Teil des UNO-Weltgipfels der Informationsgesellschaft (WSIS) gelten. Der findet im November in Tunis statt, eingeladen sind Diplomaten und Regierungschefs aus 191 Ländern. Die unterschiedlichen Standpunkte versprechen zähe Verhandlungen.

Da sich die vierzigköpfige Arbeitsgruppe nicht auf ein Modell zur Verwaltung des Internets einigen konnte, muss das Thema nun von den 191 Staaten erneut diskutiert werden. Eine Entscheidung wird schwierig, wenn nicht gar unmöglich – zumal die USA die Kontrolle über Icann und Root-Server auf jeden Fall behalten wollen.