Verschwundene finden

Mexiko, das seit den 1920er-Jahren bis zum Jahr 2000 von der Revolutionär-Institutionellen Partei regiert wurde, pflegte viele Jahrzehnte lang eine perfide politische Doppelmoral: Verfolgten Antifaschisten und bewaffneten Kämpfern gewährten mexikanische Botschaften in aller Welt Asyl – vom Spanischen Bürgerkrieg bis zu den südamerikanischen Diktaturen in Chile, Argentinien oder Uruguay, den Befreiungsbewegungen Nicaraguas, Guatemalas oder El Salvadors. „Leider gab es keine mexikanische Botschaft, an die sich verfolgte Mexikaner mit der Bitte um Schutz hätten wenden können“, sagt der Autor Fritz Glockner.

Denn der „postrevolutionäre“ Staat hatte die Aufständischen erfolgreich als gewöhnliche Kriminelle diskreditiert. Sehr zupass kam ihm dabei die Weigerung Kubas, die Existenz einer mexikanischen Guerilla auch nur anzuerkennen. Revolutionäre im Innern der seit 1917 Institutionalisierten Revolution konnte es nicht geben. Während im liberalen Mainstream Südamerikas die Guerilleros der Siebzigerjahre heute zumindest als Idealisten gelten, die – wenn auch womöglich mit falschen Mitteln – gegen die Diktatur und für die gerechte Sache gekämpft haben, blieb den mexikanischen „Subversiven“ diese Würdigung immer verwehrt.

37 bewaffnete Gruppen soll es zwischen 1969 und 1976 gegeben haben. Die Repression gegen friedliche Studentenproteste, vor allem die Massaker 1968 und 1971, sind bis heute ebenso ungesühnt wie die Verschleppung und Ermordung militanter Oppositioneller und mutmaßlicher Guerillasympathisanten in den Siebzigerjahren. Die in Lateinamerika so berüchtigte Praxis des Verschwindenlassens nahm ausgerechnet im postrevolutionären Mexiko ihren Ausgang.

Vorbild für die Mobilisierung der Nachkommen in Mexiko ist Argentinien: Dort gründeten Kinder der von der Militärjunta (1976 bis 1983) Verschleppten 1995 die Gruppe H.I.J.O.S., spanisch für „Kinder“ und zugleich die Abkürzung für „Hijos por la Identidad y la Justicia contra el Olvido y el Silencio“ (Kinder für die Identität und Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und Verschweigen). Während der argentinischen Diktatur sollen bis zu 30.000 Menschen verschleppt worden sein, dokumentiert sind etwa 10.000 Namen; nur 500 Leichname wurden bislang geborgen, gerade 200 davon identifiziert. Rund 500 Babys und Kleinkinder wurden ihren Müttern entrissen, ein Großteil von ihnen wurde zur Adoption in Militärfamilien gegeben; 80 dieser zwangsadoptierten Kinder konnten bislang identifiziert werden.

Hier wie dort geht es um die Aufarbeitung eines verdrängten politischen Traumas. Erst kürzlich hat Sonderstaatsanwalt Ignacio Carrillo Prieto eine Entschädigung von umgerechnet 20.000 Euro je Familie in Aussicht gestellt. Die Mütter von Eureka weisen jede materielle „Kompensation“ prinzipiell zurück. Andere, wie die neu gegründete Gruppe der „Sturmgeborenen“, wollen derlei Dinge erst verhandeln, wenn es mit Aufklärung und Gerechtigkeit merklich vorangeht.

Doch das ist ungewiss. Zwar wurde 2002 das gewaltsame Verschwindenlassen auch im nationalen Strafrecht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit klassifiziert und damit für unverjährbar erklärt, ebenso wie der Straftatbestand des Genozids. Allerdings gilt die Unverjährbarkeit nur für Verbrechen, die nach 1982 begangen wurden. Das Massaker von Tlatelolco und die Repression der 70er-Jahre bleiben davon also unberührt.

Ein Versuch, das Gesetz rückwirkend in Kraft treten zu lassen, scheiterte im Frühjahr am Votum von vier der fünf Bundesrichter am Obersten Gerichtshof. Die linke und liberale Öffentlichkeit reagierte bestürzt. Eine Rechtsprechung, die internationale Standards ignoriert, könnte Mexiko zum „Zufluchtsort für Völkermörder“ machen, warnte Rául Álvarez Garín vom „68er-Komitee“. Womöglich hat die Empörung Eindruck auf die Bundesrichter gemacht: Für einen weiteren Massenmord an unbewaffneten Studenten, das so genannte Fronleichnamsmassaker im Juni 1971, wollen sie die Verjährung für den Expräsidenten Echeverría (1970–1976) aussetzen. Ob daraus der Präzedenzfall eines Strafverfahrens wird, bleibt abzuwarten. AH