Angst, Wut und Misstrauen

„Die Muslime trauen sich nicht mehr, zum Fußball anzutreten“, sagt George„Ich lasse mich nicht von Weißen zum Sündenbock machen“, sagt Raschid

AUS LONDON RALF SOTSCHECK

George trauert. Der 22-Jährige mit kurz geschorenem Haar und einer schiefen Nase trägt ein schwarzes Band um seinen rechten Arm. Damit drückt er seinen Respekt für John Tyndall aus, den Gründer der British National Party (BNP), der vor acht Tagen im Alter von 71 Jahren an Herzversagen gestorben ist. „Tyndall war ein guter Politiker“, findet George, „bei den Unterhauswahlen 1997 kam er in Canning Town auf sieben Prozent der Stimmen. Mit Leuten wie ihm an der Regierung wären die Londoner Anschläge nicht passiert, weil es keine Muslime in Großbritannien mehr geben würde.“

Tyndall hat Zeit seines Lebens versucht, eine Neonazi-Bewegung in Großbritannien aufzubauen – erst als Vorsitzender der „National Front“, dann mit seiner Partei BNP, aus der er vor zwei Jahren ausgeschlossen wurde, weil er seinen Nachfolger kritisiert hatte. Er wurde mehrmals wegen Waffenbesitzes zu Gefängnisstrafen verurteilt, in dieser Woche sollte er wegen Volksverhetzung vor Gericht.

„Er hat nur gesagt, was viele hier denken“, meint George. Er arbeitet seit ein paar Wochen als Automechaniker, davor war er arbeitslos. Einer Partei gehöre er nicht an, auch nicht der BNP, aber bei Wahlen gebe er ihr seine Stimme. „Die Muslime haben Angst“, sagt George. „Sie trauen sich nicht mal, zum Fußballspiel anzutreten.“ Vorige Woche wurde das Freundschaftsspiel zwischen Millwall und der iranischen Nationalmannschaft abgesagt, weil die Polizei Ausschreitungen befürchtete.

Millwall im Osten Londons, der Nachbarbezirk von Canning Town, wurde 1993 zum Schandfleck der Nation, weil es hier der BNP erstmals gelang, bei Wahlen einen Sitz im Gemeinderat per Direktmandat zu gewinnen. Der Stadtteil, in dem George geboren wurde, liegt auf der Isle of Dogs im Themsebogen und wird von drei Seiten vom Fluss begrenzt. Im Norden schneiden die Bürotürme von Canary Wharf – der „Wall Street auf dem Wasser“, wie Margaret Thatcher ihr Paradeprojekt bezeichnet hat – das Viertel vom Rest des Eastend ab.

Millwall ist Mitte des 19. Jahrhunderts nach dem Bau der Docks besiedelt worden. Für die Hafenarbeiter baute die Stadtverwaltung damals Reihenhaussiedlungen mit kleinen Häusern aus grauem Granit. Nach dem Ersten Weltkrieg war das Viertel als linksradikal verschrien. Der Hafen ist längst stillgelegt, die Arbeitslosigkeit höher als der Landesdurchschnitt, der Anteil an Immigranten dagegen weit niedriger als in anderen Teilen des Eastend. Letzteres solle so auch bleiben, findet George. „Wir haben genug Probleme hier ohne die Ausländer“, sagt er. „Und wir haben den verdammten Kanada-Turm in Canary Wharf vor der Nase. Der ist von jedem Winkel Millwalls aus zu sehen und er erinnert uns ständig daran, dass dort eine anderen Welt liegt.“ Um dorthin zu gelangen, muss man eine schmale Treppe zur Cuba Street hinaufsteigen. Die Straße ist die Grenze zwischen Geschäftswelt und Arbeitslosigkeit: auf der Südseite verrottete Häuser, auf der Nordseite verbarrikadierte Rückfronten der Büroblocks und der Eingang des Bahnhofs South Quay der Docklands Light Railway, einer Hochbahn, die Canary Wharf mit dem Geschäftsviertel in der Innenstadt verbindet. Die blau-rote Bahn fährt durch die Bürohausschluchten und spiegelt sich in den Glasfronten, bis sie Canary Wharf hinter sich lässt und Richtung Endstation, der Bank of England, fährt.

Dazwischen liegt Shadwell – ein Viertel wie Millwall, aber mit viermal so hohem Anteil an Immigranten, die meisten aus Bangladesch. Neben dem Eingang zum Bahnhof liegt Solana Gardens, eine Sozialbausiedlung mit mehr als 150 Sozialwohnungen. Zwischen den Häusern ist ein kleiner asphaltierter Fußballplatz abgezäunt, auf dem ein paar Jugendliche in der Sommerhitze mit einem Plastikball auf ein Tor schießen.

Raschid, ein 19-Jähriger, dessen Eltern vor 22 Jahren aus Indien nach Shadwell kamen, sagt, die Londoner Bombenanschläge vom 7. Juli, bei denen 56 Menschen starben, hatten das Leben für Muslime in Großbritannien bereits beeinflusst, doch nach der zweiten Anschlagsserie vom vergangenen Donnerstag sei alles anders. „Die Normalität, die irgendwann wieder einkehrt, wird nicht die gleiche Normalität wie vor den Anschlägen sein“, sagt er philosophisch.

„Rassismus hat es immer gegeben, aber nun halten dich die weißen Londoner für einen potenziellen Selbstmordattentäter. In der U-Bahn sehen sie dich mit einer Mischung aus Angst und Wut an.“ Manchmal fahren Leute im Auto die Straße entlang und schimpfen aus dem heruntergekurbelten Fenster, wenn sie an einer Gruppe Muslime vorbeikommen.

Aber die Muslime sind ja für die Situation mitverantwortlich, meint Raschid. „Der Muslimische Rat bringt irgendwelche islamischen Gelehrten zusammen, die verkünden, dass solche Attentäter nicht in den Himmel, sondern in die Hölle kommen“, sagt er. „Das hieße ja, dass diese Leute U-Bahnen und Busse in die Luft jagen, weil sie den Koran falsch verstanden haben. In Interviews reden sie dauernd davon, dass die Muslime die Extremisten in ihrer Mitte bekehren oder ausliefern müssen. Ich bin Muslim, ich kenne keine Extremisten, und ich lasse es mir nicht gefallen, von weißen Londonern zum Sündenbock gemacht zu werden.“

Als nach der ersten Anschlagsserie klar wurde, dass in Großbritannien geborene Muslime dahintersteckten, reagierten die moderaten islamischen Organisationen mit Entsetzen, aber auch mit einer gehörigen Portion Selbstkritik. Es nützte nichts. Die Medien, vor allem die Boulevardblätter, gab ihnen mehr oder weniger deutlich die Kollektivschuld. Der Sicherheitsexperte Mike Dewar sagte sogar, in den Siebzigerjahren habe man wegen der IRA-Anschläge Angst bekommen, wenn man in London einen irischen Akzent hörte. Heutzutage, meint Dewar, müsse man Angst vor jedem dunkelhäutigen Gesicht haben.

Scheich Omar Bakri Mohammed behauptet, die Briten seien selbst schuld an den Anschlägen. „Indem sie Tony Blair wiedergewählt haben, zeigten sie, dass sie kein Verantwortungsbewusstsein haben.“ Der 45-jährige islamische Geistliche mit rundlichem Gesicht, zurückgekämmten Haaren, einem dichten, braunen Bart und einer modischen Brille mit schmalem Rand lebt seit 1986, als er aus Saudi-Arabien ausgewiesen wurde, in Großbritannien.

Eigentlich ist Bakri Rechtsanwalt, aber wegen einer Beinverletzung bekommt er Invalidenrente. Er wohnt mit seiner Frau und sieben Kindern in einer Sackgasse in Tottenham. Sein Haus mit Hängegeranien und Petunien im Vorgarten unterscheidet sich kaum von den Nachbarhäusern. Nur die Überwachungskameras und regelmäßige Polizeipatrouillen verraten, dass hier der „Tottenham-Ajatollah“ wohnt, wie ihn die Presse getauft hat.

„Natürlich verurteile ich die Bombenanschläge von London“, sagt Bakri. „Hätte ich diejenigen gekannt, die sie ausgeführt haben, hätte ich sie daran gehindert. Mein eigener Sohn war am 7. Juli in einer U-Bahn, er hätte zum Opfer werden können. Ich verurteile das Töten von unschuldigen Menschen. Wir wissen, wer die erste Anschlagserie durchgeführt hat: diese vier so genannten britischen Muslime. Aber wir können nicht nur diesen vier Toten die Schuld geben.“ Die Wähler hätten Blair vor den Parlamentswahlen im Mai klar machen müssen, dass sie ihn nur dann wiederwählen, wenn er die Truppen aus dem Irak abzieht, sagt Bakri.

Die Boulevardpresse fordert Bakris Abschiebung. Leute wie George aus Millwall würden am liebsten alle Muslime abschieben. Doch die wehren sich. „Die älteren Muslime sind viel demütiger“, sagt Abdullah. „Sie sind nach England gekommen und wollten möglichst nicht anecken. Aber die jungen Leute sind hier geboren, sie fordern dieselben Rechte wie andere Briten, denn das Land ist ihre Heimat.“ Abdullah ist 64, aber mit seinen schlohweißen Haaren und dem langen weißen Bart sieht er älter aus. Er hat Angst vor der Zukunft. Von den 1,6 Millionen Muslimen in Großbritannien haben fast zwei Drittel seit den Anschlägen überlegt, das Land zu verlassen. Das ergab eine Umfrage des Guardian. Die meisten Muslime rechnen mit Racheakten. Seit den Anschlägen sind der Polizei mehr als 1.200 rassistisch motivierte Übergriffe gemeldet worden, wobei die Dunkelziffer mit Sicherheit viel höher ist.

Abdullah wohnt in Shadwell Gardens, einem Sozialbau in der Cable Street. In dieser Straße fand 1936 die berühmteste Schlacht von Eastend statt, als Oswald Mosleys Faschisten und die Anti-Nazi-Liga wieder einmal aneinander gerieten. Abdullah rechnet wieder mit Straßenschlachten. Er glaubt, dass die Racheaktionen gegen Moscheen und muslimische Geschäfte nach der zweiten Anschlagserie zunehmen werden. „Es wird Krawalle geben“, sagt er. „Vielleicht nicht hier in London, dazu ist die Stadt zu multikulturell. Aber in den nordenglischen Städten wird es noch in diesem Sommer krachen, weil die BNP dort die antimuslimische Stimmung ausnutzen will.“ Es ist der einzige Punkt, in dem er mit dem Automechaniker George aus Millwall übereinstimmt, der seit Jahren schon die BNP wählt.