Der Mann mit den vielen Stimmen

Mangelsdorff hatte einen eigenen, sofort wiedererkennbaren Posaunen-SoundEr war in allen Spielarten des Jazz zu Hause, von Swing bis Free Jazz und Fusion

VON TOBIAS RAPP

Sie haben etwas von Sphärenmusik, die Soloaufnahmen von Albert Mangelsdorff. Über und neben den langen Melodielinien seiner Posaune brummt und summt immer noch etwas anderes. Es ist seine Stimme, mit der Mangelsdorff sein Spiel begleitet. Wie regelmäßig die Farbe wechselnder Morgennebel umstreicht sie den Klang der Posaune und erzeugt Obertöne, die sich zu den erstaunlichsten Akkorden auftürmen – ohne aber jemals an Präzision zu verlieren, für die Obertöne braucht es das reine Intervall zwischen Posaune und Stimme. Wenn man es nicht wüsste, nie würde man glauben hier einen einzigen Musiker vor sich zu haben.

„Multiphonics“ nannte Mangelsdorff diese soloinstrumentale Mehrstimmigkeit, und sie festigte in den frühen Siebzigern seinen Ruf als größter Innovator der Jazzposaune, wie John Lewis ihn einmal nannte, der Pianist des Modern Jazz Quartetts. Mangelsdorff selbst wiegelte in Interviews immer ab: die Obertöne seien ja einfach da, er habe sie nur als Erster nutzbar gemacht. Zu viel der Bescheidenheit. Mangelsdorff ist einer der wenigen europäischen Jazzmusiker, dem gelang was edelstes Ziel dieses Berufsstandes ist: einen ganz eigenen, sofort wiedererkennbaren Sound zu entwickeln. Einen Sound, der tief in der kollektiven Formensprache des Jazz verankert ist und zugleich immer nach Albert Mangelsdorff klingt – und klingen wird.

An Mangelsdorffs Biografie lässt sich die ganze Geschichte des westdeutschen Jazz erzählen. 1928 in Frankfurt am Main geboren, hörte er schon während der Nazizeit zusammen mit seinem Bruder Emil – der selbst ein erfolgreicher Saxofonist werden sollte – die Jazzprogramme der Feindsender. Als der Krieg vorbei war, kaufte er mit ein paar Schachteln Zigaretten eine Posaune und begann in den Clubs der schwarzen GIs zu spielen. Bis die Segregation in der US-Armee abgeschafft wurde und auf einmal weiße Manager die Läden übernahmen, wie Mangelsdorff Jahrzehnte später in einem Interview erzählte. Dann hätten sie Pop spielen müssen, irgendwann keine Lust mehr gehabt und angefangen, sich privat in als Bars getarnten Jazzclubs zu organisieren.

Der Cool Jazz von Lennie Tristano und Lee Konitz hatte es ihm damals angetan, wie alle europäischen Musiker jener Zeit spielte er den Sound seiner Vorbilder nach. 1958, als er zum Newport Festival in die USA eingeladen wird und einige Wochen in New York verbringt, ist damit Schluss. Zurück in Frankfurt beschließt Mangelsdorff, nun seinen eigenen Weg zu gehen und niemanden mehr nachzuspielen. Unterstützt wird er dabei vom Goethe-Institut, das ihn 1961 auf eine ausgedehnte Asientournee schickt. Auf dem Album „Now Jazz Ramwong“ kann man die indischen und thailändischen Einflüsse hören – amerikanische Kollegen wie Yusef Lateef probieren sich zur gleichen Zeit an ähnlichen Entwürfen von dem, was später Weltmusik genannt werden wird.

Mangelsdorff wird noch mehrmals zum Newport Festival eingeladen und sogar in die Jahresbestenlisten des führenden Jazzmagazins Downbeat gewählt. Eine Weile spielt er mit dem Gedanken, ganz in die USA überzusiedeln. Ein Plan, den er jedoch verwirft – zu sehr schreckt ihn die Missachtung ab, unter der Jazzmusiker in den Staaten zu leiden haben, die ökonomischen Zwänge, die selbst berühmte Künstler dazu zwingen, für Trinkgeld in Hotellobbys zu spielen. In Europa ist die Situation eine andere, besonders in Deutschland. Hier wird Jazz als Kulturgut gehandelt und eine große Förderstruktur baut sich auf, insbesondere unter dem Dach des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – seit 1957 ist er Leiter der Jazz Ensembles des Hessischen Rundfunks. Mit dieser Struktur gehen andere Zwänge einher, das Gremienwesen wird nämlich spätestens in den frühen Neunzigern einen vernichtenden Sieg über die Kreativität davontragen – mit dem Funktionär Mangelsdorff mittendrin.

Doch in den späten Sechzigern sieht es noch ganz anders aus. In den USA beginnen ab der Mitte des Jahrzehnts die großen Verteilungskämpfe um Auftrittsmöglichkeiten und Plattenverträge, Kämpfe, die sich auch in den Konflikten um die Frage abbilden, welche Richtung diese Musik nehmen soll: Hin zum Rock oder weg vom Rock? Ist Free Jazz eigentlich noch Jazz? In Europa dagegen versucht man sich solidarisch zu organisieren. Mangelsdorff ist in allen Spielarten des Jazz zu Hause, auch die freie Improvisation begreift er als Erweiterung seines Klangspektrums und wird Teil des Globe Unity Orchestra, der großen europäischen Free-Jazz-Gruppe. Und Mitte der Siebziger ist er einer der Begründer der Fusion-Band United Jazz + Rock Ensemble.

Während die Aufnahmen der Gruppe heute ziemlich schal klingen, ziehen seine Soloeinspielungen von damals einen noch immer in den Bann. „Trombirds“ nennt er seine erste Soloplatte 1971 – als Hobbyorthnitologe lässt Mangelsdorff sich viel und gerne von Vogelgesang inspirieren. Im Kulturprogramm der Olympischen Spiele von 1972 spielt er sein erstes Solokonzert.

Doch Mangelsdorff ist mehr als nur Musiker. In Erinnerung an die frühen Tage seiner Karriere, als er ohne Krankenversicherung für das Bier spielen musste, das er und seine Kollegen tranken, um ihre stundenlangen Auftritte durchzustehen, wird er Präsident der UdJ, der Union deutscher Jazzmusiker, einer Lobbyorganisation, die für Jazzmusiker eine ähnliche öffentliche Förderung erkämpfen will wie für die klassischen Kollegen. Er tritt mitunter auch bei SPD-Veranstaltungen auf, 1988 spielt er gar mit Dieter Dehm eine Version von „Weiches Wasser“ ein, als SPD-Parteihymne.

Es dürfte die gleiche Pflichtauffassung gewesen sein, die Mangelsdorff 1994 die Leitung des Berliner JazzFests übernehmen lässt – in der Verunsicherung der ersten hauptstädtischen Kürzungsorgien in der Kultur muss ein großer Name her, um das Festival überhaupt zu retten. Und die Glücklosigkeit mit der er in den sechs Jahren seiner Regentschaft agiert, kann man ihm auch nur zum Teil anlasten. Mangelsdorff war schlicht der sichtbarste Repräsentant einer öffentlich-rechtlichen Organisationsstruktur, die ihre Vorstellungen einer schwer arbeitenden, nichtglitzernden europäischen Jazzszene in langen Jahren harter Anerkennungskämpfe gebildet hatte und blind dafür war, dass die musikalischen Resultate meist für wenig Aufregung sorgten. Musikalisch konnte eben kaum jemand Mangelsdorff das Wasser reichen.

Was auch mit dessen unglaublicher Arbeitsdisziplin zusammenhing. Jeden Tag übte er mehrere Stunden – um die Kontrolle über die Posaune zu behalten, dieses sperrige Instrument, das so schwierig zu spielen ist, weil man die Luftsäule per Hand verlängern oder verkürzen muss – bis kurz vor seinem Tod. Am Montagmorgen ist Albert Mangelsdorff, im Alter von 76 Jahren, in Frankfurt am Main gestorben.