Enthüllungen des Realen

Von den Dingen, die nicht gesehen wurden, bevor Diane Arbus sie aufnahm: Das Folkwang Museum in Essen zeigt eine umfangreiche Retrospektive der amerikanischen Fotografin, deren erklärtes Ziel es war, böse Bilder zu machen

Wir sehen eine Sache nicht, weil sie sichtbar ist, sondern sie ist sichtbar, weil wir sie sehen

VON DANA CSÍSZÉR

„Eine Fotografie ist ein Geheimnis über ein Geheimnis: Je mehr es einem erzählt, desto weniger weiß man“ Diane Arbus (1923–1971)

Ein Frauenimitator posiert nackt vor seinem Bett; anmutige Körperhaltung im Stil einer Madonna, umrahmt von schweren Vorhängen, seine Männlichkeit zwischen den Beinen eingeklemmt. Unter dem Bett lugt eine leere Bierdose hervor. Ein Riese droht durch seine Körperlänge die Decke des Wohnzimmers zu sprengen: Figuren, wie von David Lynch inszeniert. Nur nicht ganz so schrill, ganz so traumverhangen. Eher in Schwarz-Weiß gehalten, aus einer amerikanischen Realität der Fünfziger- und Sechzigerjahre entsprungen: Transvestiten, Nudisten, Zwillinge, Kleinwüchsige, Exzentriker, Freaks, Besessene, Schöne und Reiche – kein anderer Fotograf hat die Facetten der menschlichen Außergewöhnlichkeit eingehender dokumentiert als die Amerikanerin Diane Arbus. Das Folkwang Museum in Essen würdigt die legendäre Fotografin nun mit einer Retrospektive.

„Wir sehen eine Sache nicht, weil sie sichtbar ist, sondern sie ist sichtbar, weil wir sie sehen“, ein von Arbus unterstrichenes Zitat von Plato untermauerte ihr lebenslanges Credo. Diane Arbus wollte „böse Bilder“ machen, offen legen, was vielen aus gesellschaftlichen Gründen heraus verborgen blieb. „Ich glaube wirklich, dass es Dinge gibt, die niemand sehen würde, bis ich sie fotografiere.“ Es waren aber nicht nur Freaks, deren innere Zerrissenheit sie durch ihre fotografische Herangehensweise zu kitten vermochte, in dem sie immer wieder den Akzent auf die Schönheit der Andersartigkeit legte. Es gelang ihr vice versa auch, die Schönen und Reichen in Momenten einzufangen, in denen Verwundbarkeit und Melancholie hinter einer künstlich aufgebauten Fassade zum Vorschein traten.

Als Diane Nemerow 1923 in New York geboren, genoss sie in ihrer Kindheit alle Annehmlichkeiten, die ihr der bohemien style of life ihrer reichen jüdischen Familie zu bieten hatte. Mit 18 Jahren heiratete sie Allan Arbus, mit dem sie sich, einem siamesischen Paar gleich, der Fotografie verschrieb: Der technisch versierte Allan fotografierte und Diane, die Einfallsreiche, inszenierte die Arrangements für ihre Shootings. Durch Aufträge von Vogue und Glamour erhielten beide Zugang zur Mode- und Werbebranche. Nach Jahren der beruflichen und privaten Zusammenarbeit distanzierte sich Diane 1956 jedoch von ihren gemeinsamen Projekten. Fortan – Diane Arbus war mittlerweile 34 Jahre alt – gab sie sich ihrer eigenen Obsession hin. Mit einer Kamera bewaffnet, durchstreifte sie den ihr wohl bekannten Moloch New York City und traf zunehmend auf skurrile Menschen, deren magischer Anziehungskraft sie erlag: „Sie haben ihren Test im Leben bereits bestanden. Die meisten Menschen gehen mit der Furcht durchs Leben, dass sie eine traumatische Erfahrung machen könnten. Freaks werden mit ihrem Trauma geboren. Sie sind Adelige.“ Die Suche nach diesen Träumern und exzentrischen Helden einer anderen Wirklichkeit sollte sie fortan nicht mehr loslassen. Die Momentaufnahmen, die sie in den kommenden Jahren von ihren gestrandeten Gestalten machen sollte, muten wie lyrische Metaphern an.

Zunächst fotografierte sie in sehr grobkörniger Manier. Die Fotografin Lisette Model animierte Arbus, ihre Aussagen konkreter zu gestalten, mehr Kontrast in ihren Arbeiten zu verwenden, und wies ihr den Weg zur eigenen Stärke. Arbus begann, sich das Geschehen um sie herum mit allen Sinnen einzuverleiben: „Ich drücke nicht ab. Das Bild löst sich selbst aus. Es ist wie eine sanfte Überrumpelung.“ Ihre Bilder, die zwar wie journalistische Schnappschüsse wirken und von dem Begriff „magischer Realismus“ geprägt sind, entstanden durch zeitintensive Beobachtungen. Es ging ihr weniger darum, aus einer Erfahrung ein einzelnes Bild herauszuholen, als in einer Serie die Menschen und die Atmosphäre einzufangen. Sie drückte immer im richtigen Augenblick ab. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren suchte sie durch Aufträge für Zeitschriften, darunter Harper’s Bazaar und Herald Tribune, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Norman Mailer echauffierte sich über das von ihm 1963 gemachte Porträt: „Diane Arbus eine Kamera zu geben ist dasselbe, als würde man ein Kind mit einer scharfen Handgranate spielen lassen.“ Ihre radikale Art zu fotografieren bot Grund genug, sie keine Politiker ablichten zu lassen. Ihre Vorschläge, in Leichenhallen und Gefängnissen fotografische Reportagen zu machen, wurden abgeschmettert.

Einige Besucher der kürzlich in New York gezeigten Retrospektive bezeichneten die Wirkung der Bilder als „sort of depressing.“ Was nicht nur an Arbus bevorzugten Protagonisten, sondern auch an ihrer Technik liegen mag; künstliches Licht, Blitz von vorne, harte Übergänge – sie verstand, düstere Atmosphäre durch ihre Fotos zu transkribieren. Doch vielmehr als depressive Stimmung zu kreieren, konnte sie durch ihre Fotografien die menschliche Würde der Outcasts vermitteln und somit auf die Dualität der Welt verweisen, eine Dualität, die sie persönlich schon längst verinnerlicht hatte: „Die Welt ist eine Arche Noah auf dem Meer der Ewigkeit, die all die endlosen Paare der Dinge in sich trägt, unvereinbar und untrennbar. Und mit der unaussprechlichsten Nostalgie, die es gibt, wird sich die Hitze immer nach der Kälte sehnen, und das Hinten nach dem Vorne, und das Lächeln nach den Tränen, und das Nein nach dem Ja.“ In ihrer letzten Serie, die sie in einer Anstalt für geistig Behinderte machte – dieses Projekt sollte als Vorlage für ihr erstes Buch dienen –, wirken die Menschen wie von einer mystischen Weltabgewandtheit durchwoben. Ihr tief greifendes Verständnis für Wahnsinn entwickelte sie aus ihrer eigenen Geschichte: Arbus litt an in immer kürzeren Zeiträumen auftretenden Depressionen, die im Sommer 1971 zu ihrem Selbstmord führten. „Was bleibt, nachdem das, was man nicht ist, weggenommen wurde, ist das, was man ist.“ Das, was Diane Arbus war, im Folkwang Museum zu sehen, ist immer noch eine großartige Erfahrung.

Bis 18. September, Katalog (Schirmer/Mosel Verlag) 49,80 €