Lehrstuhl des Grauens

Braunschweig gilt als biedere Stadt und Christoph Schlingensief als der wilde Mann des deutschen Theaters. Passt das zusammen? Ja, meint die Hochschule für Bildende Künste. Noch verschreckt „Schlinge“ Kölns katholische Weltjugend mit seiner „Church of Fear“. Aber bald arbeitet er an der Oker

„Studenten liegen faul rum und kosten meine Steuergelder“, meint Schlingensief

Sitzen in Braunschweig bald Studenten auf Pfählen? Dort ist ab Oktober Christoph Schlingensief Professor für „Kunst in Aktion“ an der Hochschule für Bildende Künste. Zwei Jahre soll Schlingensief erstmal Gastprofessor sein, kündigt die Hochschule an, und den Studenten Aktionskunst beibringen – damit die sich Arbeitsfelder jenseits des Schuldienstes erschließen können.

Erst am Donnerstag hatte Schlingensief die Kölner Filiale seiner „Church of Fear“ eröffnet, auf einem Museumsdach und gerade rechtzeitig zum Katholischen Weltjugendtag. Dazu Hohepriester Schlinge: „Ich habe nichts gegen das Ereignis und freue mich auf den Papst.“ Schlingensiefs „Church of Fear“ ist bekannt für ihr religiöses Pfahlsitzen, bei dem sieben Säulenheilige der Moderne um die Wette auf zwei Meter hohen Pfählen ausharren, um ihre Fremdbestimmtheit aufzuzeigen. Wer am längsten oben bleibt, hat Schmerz, Angst, Hass, Willen zum Terror demonstriert – und gewonnen.

Aber Schlinge als Professor? Schlinge am Katheder mit Powerpoint? Zuletzt hatte der Mann, dessen erklärtes Ziel die Totalirritation ist, mit der Parsival-Inszenierung am letzten Freitag von sich Reden gemacht. „Das war wie in einem Glücksrausch für mich und unser Team“, freut sich Schlingensief über das Entsetzen der Festspielgemeinde. „Wann habe ich zuletzt solche Reaktionen bei einer Theaterinszenierung hervorgerufen? Seit drei Jahren nicht mehr.“

Ob die Braunschweiger Studenten wissen, was auf sie zukommt? Von ihnen sei er nämlich gefragt worden, ob er nicht Lust hätte, die Professur zu übernehmen, so Schlingensief. Zunächst habe er gar kein Interesse und auch gar keine Zeit für sowas gehabt. Studenten seien eh eine zweifelhafte Klientel. „Die liegen faul rum und kosten meine Steuergelder“, meint Schlinge, „ich war doch genauso, als ich studiert hab.“

Aber dann sei die Atmosphäre in Braunschweig doch ganz angenehm gewesen und die Mädels nett. Er sei kein Theoretiker, könne auch nicht mit 50 Leuten auf einmal arbeiten. „Ich arbeite durcheinander. Ich kann nix versprechen“, warnte er die Hochschulkollegen in spe. Aber die waren zu allem bereit. Weil Schlingensief keine Modenschau wollte, sprach man ihm ohne Auswahlverfahren eine Gastprofessur zu. Die könne dann nach Belieben verlängert werden, erklärt Schlingensief. Und da er nicht so recht unters Label „Darstellendes Spiel für Schule“ passen wollte, habe man seinetwegen die Professur umbenannt in „Kunst in Aktion“.

Wie eine Vorlesung à la Schlingensief aussehen wird, weiß er auch noch nicht genau. Kann man Studenten das totale Durcheinander beibringen? „Ich kann nicht Chaoten auf Diplom machen“, meint Schlingensief. Vor allem wolle er die Studenten mitnehmen zu eigenen Produktionen. Er selbst habe früher am meisten gelernt, als er Werner Nekes über die Schulter schaute, dem Mitbegründer des absurden Films in Deutschland. Damals war Schlingensief Kameraassistent.

Mit seinem derzeitigen Projekt will er erforschen, wie Zeit zu Raum wird und Raum zu Zeit. Wenn man von ihm als Professor Antworten erwarte, sei man auf dem Holzweg. „Es geht darum, einen metaphysisch-energetischen Transformationsprozess entstehen zu lassen“, so Schlingensief, „der Prozess stellt die Fragen selbst und kann auch selbst die Antwort finden.“

Nach Pfahlsitzen hört sich das nicht an, aber so richtig klar ist trotzdem nicht, was Schlingensief will. Eine Frau aus Braunschweigs alteingesessenem Wagner-Verein fürchte sich schon vor Chaos-Attacken, verrät er. Er frage sich, ob man nicht einen neuen studentischen Wagner-Verein gründen solle, mit Umzügen und Paraden durch die Stadt. Außerdem sei es ihm ganz unverständlich, dass es die Studentenschaft im deutschtümelnden Braunschweig noch nicht geschafft habe, eine schlagende Verbindung an der Hochschule der Künste zu gründen. Höchste Zeit, dass das mal jemand in Angriff nimmt. Die Braunschweiger dürfen sich schon mal den Gruß der Church of Fear zu Herzen nehmen: „Keine Angst – habt Angst!“ Denis Bühler