Lauf, Pilar, lauf

Besser abhauen als wegducken: Liebe und Gewalt scheinen ein Dauerbrenner des spanischen Kinos. Auch die Regisseurin Icír Bollaín erzählt mit ihrem letztes Jahr in Spanien für viel Furore sorgenden Film „Öffne meine Augen“ ein Ehe- und Emanzipationsdrama, das um Verständnis für beide Seiten wirbt

VON BARBARA SCHWEIZERHOF

Filme, die sich mit dem wahren Leben befassen, haben oft ein Problem: Der Zuschauer weiß bereits Bescheid. Was er nicht aus eigener Anschauung kennt, hat er aus der Zeitung. Das gilt besonders für „soziale Themen“ wie zum Beispiel geschlagene Frauen – das verbreitete Allgemeinwissen verstellt das Interesse an der individuellen Geschichte. Man hat einfach zu schnell eine Meinung dazu.

Still, vorsichtig und eilig sieht man zu Beginn von „Öffne meine Augen“ eine Frau ihre Sachen packen und aus der Wohnung fliehen. In ganz ähnlicher Weise versucht der Film den vorschnellen Urteilen seiner Zuschauer zu entkommen. Noch glaubt man zu wissen, worauf das alles hinausläuft: Die emanzipierte Schwester wird zur Scheidung raten, der Ehemann um Rückkehr flehen und sie selbst sich lange nicht entscheiden können. Aber im nächsten Moment ist man gepackt vom eigentümlichen Liebesdrama, das sich da zwischen zwei Menschen abspielt. In Spanien hat „Öffne meine Augen“ letztes Jahr Furore gemacht und bei den Goya-Preisen abgeräumt. Das mag damit zusammenhängen, dass Gewalt in der Ehe dort in besonderer Weise ein Tabuthema ist; und auch damit, dass der Film so feinfühlig wie entschlossen den Zuschauer nötigt, sich in beide Seiten des Dramas hineinzuversetzen.

Einerseits ist da also Pilar, die Geschlagene, ängstlich und unsicher. Man sieht, dass die Jahre des Zusammenlebens mit dem aufbrausenden Mann sie das Kuschen gelehrt haben. Ihre ganze Körpersprache besteht aus einem vorauseilenden Sichducken. Zugleich wird deutlich, dass die zierliche, schüchterne Frau wohl einst ihren Beschützer gerade in diesem Mann gesehen hat, dem sie jetzt kaum noch in die Augen schauen kann. Das ist nicht nur ein furchtsames Ausweichen, sondern auch ein Stück Verächtlichkeit.

In Antonie erkennt man andererseits den typischen bulligen, aber eben auch unsicheren Mann. Sein Selbstwertgefühl ist so gering, dass er annimmt, sobald seine Frau an die Öffentlichkeit käme, könnte sie jemand Besseres kennen lernen. Seiner aus Verlustängsten genährten Wut scheint Antonio wie hilflos ausgeliefert.

Die große Stärke des Films ist es, verständlich zu machen, warum die beiden so aneinander hängen. Denn zusammen ergibt sich aus Angst und Unsicherheit ein Bedürfnis nach großer Liebe. Pilar bezieht eine heimliche heroische Größe aus der märtyrerhaften Haltung, bei ihm zu bleiben; Antonio beweist sich und ihr die Großartigkeit seines Gefühls durch die Erniedrigungen des Umverzeihungbittens. Nach außen ein beschädigtes und gefährdetes Paar, sind sie nach innen wahre Liebende. Pilar also flieht zuerst, sucht sich einen Job und kehrt dann wieder zurück zu Antonio, der zur Gruppentherapie geht. Tatsächlich ist er nie überzeugender, als wenn er sagt, so wie die anderen Jammerlappen dort wolle er ganz bestimmt nicht enden. Die Ausschnitte aus den Sitzungen, in denen dominante Männer die Hilflosigkeit schildern, die hinter ihren Gewalttätigkeiten steht – „Sie hat mich provoziert!“ –, haben fast etwas Kabarettistisches, doch weder macht der Film sich lustig über sie, noch lässt er sich zu sehr auf ihr Selbstmitleid ein.

Auch die schrittweise Emanzipation Pilars erweist sich als Gratwanderung. Es wird nicht reichen, dass sie sich nach Rückfällen in alte Muster von Antonio und der Illusion der großen Liebe löst; sie muss auch Abstand gewinnen von jenen, die immer behaupten, auf ihrer Seite zu stehen. Man kann nicht mit allen Seiten gleichzeitig mitfühlen, das gilt am Ende für Pilar und den Film gleichermaßen.

„Öffne meine Augen“. Regie: Icíar Bollaín. Mit Laia Marull, Luis Tosar, Candela Peña u. a. 106 Min. Spanien 2003