Überdachte Positionen

Erkundungen für die Präzisierung der Gefühle rund um einen Aufstand (Nachtrag): Rudi Dutschke dachte kurz über illegale Gewalt nach. Das basierte, wie er aber selbst bald einsah, auf einem Irrtum

VON GRETCHEN DUTSCHKE

Wie kann eine Bewegung effektiv gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen? Das war die Frage, die Rudi Dutschke unter den Nägeln brannte. Es liegt auf der Hand, dass diejenigen, die von ihren Machtpositionen in einem System profitieren, diese Macht nicht aus freien Stücken aufzugeben bereit sind. Im Gegenteil tun sie meist alles nur Erdenkliche, um ihre Macht zu behalten, bis hin zur Massenabschlachtung derjenigen, die gegen das System protestieren. Und da sie an der Macht sind, lassen sich diese Leute dafür kaum belangen. Freilich kommen die Herrschenden oft ohne offene Gewaltausübung aus und greifen, dann aber ohne Skrupel, erst zur Gewalt, wenn ihre Herrschaft gefährdet ist.

Anders verhält es sich mit denjenigen, die Rudi die Erniedrigten und Beleidigten nannte. Nur sehr wenigen von ihnen gelingt es, ihre Ziele mit wenig oder ganz ohne Gewalt zu erreichen, aber nicht, weil die Protestierenden das so wollen, sondern weil ihnen die Mächtigen mit Gewalt entgegentreten. Daher müssen sie entscheiden, ob sie sich wehren wollen, ob sie kämpfen werden oder aufgeben.

Wenn der Anführer einer Bewegung deren Handlungsoptionen abwägt, muss er auch ihre Ziele und gesellschaftlichen Grundlagen bedenken, und dadurch sind seine Möglichkeiten eingeschränkt, zumindest wenn die Bewegung effektiv sein soll. Das erfordert auch, dass man seine Gegner kennen muss, wie sie funktionieren, wie die Bewegung mit ihnen verhandeln könnte (oder auch nicht), und dann muss man abwägen, wie der Gegner reagieren könnte. Andererseits muss der Sprecher einer Bewegung in der Lage sein, seine potenzielle Basis anzusprechen und ihre Unterstützung zu gewinnen. Dazu muss er wissen, wie man mit der Basis verhandelt, wie sie ihre Beziehung zur Machtstruktur einschätzt und was sie zu tun bereit ist, um ihre Ziele zu erreichen. Er muss eine Vorstellung davon entwickeln, zu welchen Ergebnissen seine Handlungen und die der Bewegung führen werden.

Rudi verbrachte viel Zeit mit der Analyse dieser Erwägungen, und seine Antworten änderten sich im Laufe der 16 Jahre, die er in der Bewegung aktiv war. Die Ziele der Protestbewegung, für die Rudi als Sprecher auftrat, veränderten sich nicht allzu sehr in den Jahren, solange die Bewegung existierte. Die Bewegung wollte die Erniedrigten und Beleidigten der Länder der Dritten Welt ermächtigen, um sie von der Ausbeutung durch westliche Konzerne zu befreien, und sie strebte die Demokratisierung des Westens an, sodass Menschen, die wenig Kontrolle hatten über ihre Lebensumstände, mehr Einfluss auf ihre Lebensbedingungen, ihre Schulen und Arbeitsplätze bekämen. Das bedeutete die Unterstützung von Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und Forderungen nach Demokratisierung und mehr Mitbestimmung (insbesondere während der 70er-Jahre mehr Einfluss auf die Umwelt) im industrialisierten Westen.

Was sich veränderte, war die Definition der gesellschaftlichen Basis, aus der sich die Machtlosen und Ausgebeuteten zusammensetzte. Die alte sozialistische Vorstellung von der Arbeiterklasse wich einer Marcuse’schen Vision von Randgruppen im Verbund mit Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. Als sich dann erwies, dass viele dieser Befreiungsbewegungen autoritäre und undemokratische Elemente enthielten, verloren sie ihren Glanz. Randgruppen veränderten sich, manche rückten zur Mitte, neue tauchten auf, und die Studenten wurden älter und bürgerlicher, obwohl sie immer noch gegen die nukleare Bedrohung und die Umweltzerstörung protestierten. Durch all dies zog sich jedoch wie ein roter Faden der Wunsch nach Demokratisierung (örtliche Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung von oben durch eine Minderheitenelite).

Die Definition des Gegners, das Wesen der herrschenden Machtstruktur veränderte sich ebenfalls, und das war der schwierigste Aspekt, den die Bewegung in den Griff bekommen musste. Rudi erkannte bald, dass es hierauf keine einfachen Antworten gab. Er hielt sich an die Vorstellung einer Dialektik aus Theorie und Praxis, die keine endgültigen Antworten verhieß, sondern stets dehnbar war, stets bereit, die eigene Position zu überdenken, wenn sich die Situation oder seine Einschätzung der Situation veränderte.

Das fiel manchen schwer zu verstehen, und bis auf den heutigen Tag weigern sich selbst diejenigen, die sich für „objektive“ Historiker dieser Zeit halten, diese Form von Dialektik zu verstehen, wenn sie sich mit Rudi und seiner Beziehung zur Protestbewegung beschäftigen. Es gibt natürlich keine solche objektive Beschreibung geschichtlicher Vorgänge. Es handelt sich immer um eine Deutung, und der Deutende hat seine oder ihre Ziele, die er oder sie unter Rückgriff auf die Geschichte rechtfertigen will.

In jedem Fall veränderte die Analyse der Machtverhältnisse in Westdeutschland, in welchem Maße es zu demokratischen Reformen in der Lage war, wie stark autoritäre Strukturen ausgeprägt waren und wie es sich zu seinem Nazivorgänger verhielt, das Zutrauen der Protestbewegung in die eigene Effektivität, mit der sie die angestrebten Veränderungen herbeiführen konnte.

Auch Rudis Ansichten darüber, wie das System funktionierte, veränderten sich als Folge seiner Erfahrungen in der Bewegung und als Folge dessen, wie sich die Bewegung in diesen Jahren entwickelte. Als es schien, dass die Herrschenden auf die Studentendemonstrationen mit Gewalt reagieren würden und sogar zu töten bereit waren, um Veränderungen zu verhindern, erkannten die Protestierenden darin Parallelen zu der Zeit vor den Nazis und Hitlers Machtergreifung. Unter diesen Umständen schien es sinnvoll, über die Bildung illegaler Verschwörungsgruppen nachzudenken, die bereit wären, das auszuführen, was den Verschwörern 1944 nicht gelungen war (nämlich ein tyrannisches Regime zu beenden). Ja, auch jene Adligen, die Hitler umzubringen versuchten, waren nach der heute gängigen Vorstellung vom Terrorismus per definitionem Terroristen. Die Baader-Meinhof-Gruppe sah sich ganz gewiss in dieser Tradition. Womöglich übte das Erbe der Verschwörer von 1944 auf die deutschen Terroristen der 70er-Jahre einen ebenso großen Einfluss aus wie die Befreiungsbewegungen und Guerillas der Dritten Welt. Ihr fataler Irrtum rührte nicht von den Wurzeln ihrer Ideen her (neben der Verschwörung von 1944 waren dies die Befreiungsbewegungen der 50er- und 60er-Jahre bis hin zu Dutschkes Stadtguerilla- und Fokustheorie). Ihr Irrtum rührte daher, dass sie die Machtstrukturen in Westdeutschland in den 60er- und 70er-Jahren falsch einschätzten.

Als die Polizei im Juni 1967 Benno Ohnesorg tötete, war Rudi selbstverständlich versucht zu glauben, dass die Machtstrukturen autoritär, antidemokratisch, gewalttätig und mörderisch waren. Doch etwa ein Jahr später hatten sich seine Ansichten geändert. Er erkannte, dass das System nachgiebiger war, dass es in gewisser Hinsicht kompromissbereit war und dass demokratische Verfahren wie die Gründung einer Partei und die Teilnahme an Wahlen mehr Unterstützung von der gesellschaftlichen Basis erfahren würden als Untergrundzellen, die für die gesellschaftliche Basis entweder schwer begreiflich oder gänzlich tabu wären. Hier trennten sich seine Wege von denen mancher Bekannter, mit denen er früher zusammengearbeitet hatte. Sie verschwanden im Untergrund. Rudi versuchte sie erfolglos davon zu überzeugen, dass sie damit einen schrecklichen Fehler begingen.

Ist es also aus heutiger Perspektive sinnvoll, Rudis Einfluss auf das Denken mancher Terroristen in den Mittelpunkt einer historischen Diskussion über die Bedeutung und die Folgen der antiautoritären Bewegung zu stellen? Oder handelt es sich dabei um eine Verzerrung der Geschichte, bei der Auslassungen in Kauf genommen werden, um eine Behauptung aufzustellen, gegen die kein Einspruch erhoben werden kann und die einem noch dazu Aufmerksamkeit verschafft? Den Ursprung bestimmter Ideen zurückzuverfolgen ist natürlich ein legitimes historisches Unterfangen. Die Ideen der Aufklärung führten zu Thomas Jeffersons Schriften, den „Federalist Papers“ und zur amerikanischen Revolution, die übrigens einen gewaltsamen und terroristischen Angriff auf die „legitime“ britische Regierung darstellte. Die amerikanische Revolution ihrerseits beeinflusste über die nächsten Jahrhunderte Ho Chi Minh und viele andere Revolutionäre. Vielleicht wurde sogar Ussama Bin Laden von Teilen dieser revolutionären Theorie angeregt. Die ursprünglichen Impulse wurden jedoch zuweilen durch andere Einflüsse korrumpiert und ihre humanitären und demokratischen Ziele aus den Augen verloren. Wenn man also behauptet, Rudi Dutschkes Theorien hätten zum Baader-Meinhof-Terrorismus geführt, muss man auch behaupten, dass Thomas Jefferson Ussama Bin Ladens Terrorismus inspiriert hat. Derartige Gleichsetzungen führen aber zu einem so schwammigen Gedankenwirrwarr, dass es unerlässlich ist, sie genauestens in ihren Kontext zu stellen, sonst läuft die Verbreitung solcher Ideen auf eine Verfälschung der Geschichte hinaus.

Aus dem Englischen von Sabine Baumann und KD Wolff.